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meines Weges. Als ich wieder an ihrem Platz vorüberkam, waren sie und ihr Begleiter verschwunden. Gleich darauf hatte ich sie vergessen.

Am anderen Tag verließ ich Nancy. Im letzten Augenblick vor der Abfahrt wurde die Coupéthür aufgerissen, und herein schoben sich der alte Herr und die Schöne von gestern. Sie lächelte kaum merklich, fast nur mit den Augen, als sie meiner gewahr wurde, aber ich sah es … Wir waren unser Vier in dem Coupé. Mir gerade gegenüber in der Ecke saß ein rothbehoseter Offizier, schrägüber am jenseitigen Fenster meine Unbekannte, und ihr vis-à-vis der alte Herr. Er hatte die Ehrenlegion im Knopfloch und las legitimistische Zeitungen. Ihr Mann oder ihr Vater? Wenn er ihr Vater war, so hatte er spät geheirathet … So gut es ging, ohne zudringlich zu sein, betrachtete ich sie aufmerksam. Eine Schlanke, Hohe, mit ganz kleinen Händen und Füßen. Das Haar brünett, die Gesichtsfarbe aber sehr licht und die Augen blau. Und in dem blassen, edlen Gesicht, um den rosenrothen Mund spielte jenes Lächeln, das ich nicht verstand. Denn ich war niemals der Geck gewesen, der sich gleich zu einer Eroberung gratulirt, wenn ihn eine Frau ansieht. Ich hatte auch nie Glück auf dem Trottoir, nie zärtliche Erfolge gehabt. Ich meinte also, daß jenes Lächeln sich auf irgend eine mir unbekannte Absonderlichkeit meines Aeußeren beziehe – vielleicht auf den fremdländischen Schnitt meines Bartes, was weiß ich? …

Wir fuhren. Wäre ich nicht so tief davon durchdrungen gewesen, daß mir ein Liebesblick, ein verheißungsvolles Lächeln nicht gelten könne, so würde ich ihr vielleicht ein Zeichen gegeben, ein Gespräch begonnen haben. Ich that nichts dergleichen. Ich starrte sie bloß verstohlen an.

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Theodor Herzl: Philosophische Erzählungen. Gebrüder Paetel, Berlin 1900, Seite 104. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Herzl_Philosophische_Erzaehlungen.djvu/109&oldid=- (Version vom 1.8.2018)