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Im nächsten Augenblicke stand der Ungeduldige im Bibliothekssaale des berühmten Doktor Boaster. Ah, noch nicht im allerheiligsten Ordinations-Zimmer. So schnell ging das denn doch nicht. Ein Patient, der nicht warten muß, kann kein Vertrauen zu seinem Arzte haben. Boaster, der alles wußte, hätte dies nicht wissen sollen? Freilich wurde der ernsthafte Client, der vom Kammerdiener als solcher erkannt worden war, nicht in den großen Empfangssalon geleitet, wo die klafterlangen und -hohen „Meissoniers“ hingen. Das bilderlose, tiefernste Bibliothekszimmer, das ordentlich nach durchwachten Forschungsnächten roch, war dazu bestimmt, diesen Wartenden das für höhere Honorarsätze unerläßliche Gruseln beizubringen. Große lateinische, nie gelesene Bücher überall. Bücher, Bücher, Bücher in dunklen Einbänden, nur stellenweise von dem freundlicheren Glanz eines Menschen- oder Thierskelettes unterbrochen. Auch scharf geschliffene, stählerne Instrumente blitzten da und dort. Denn keine Feinheit der Charlatanerie war Boaster fremd. Und doch war er ein großer Arzt. Er kannte den Menschen.

Der jetzige Besucher kümmerte sich blutwenig um all’ diese ausgeklügelten Herrichtungen, gleichgültig schritt er auf und nieder. Dann öffnete sich endlich die Tapetenthür vom Ordinations-Zimmer aus.

„Wenn’s beliebt, Herr!“ sagte Doktor Boaster.

Nun saßen sie einander gegenüber. Boaster mit dem Rücken zum Fenster, während das volle Licht auf das rothwangige, gesunde, von dichtem Bart umgebene Gesicht des Hülfesuchenden fiel. Dieser begann:

„Doktor, wenn Sie mich herstellen, zahlen ich Ihnen ein Honorar von zehntausend Dollars.“

Boaster erhob die Hand leicht, wie zur Abwehr.

Empfohlene Zitierweise:
Theodor Herzl: Philosophische Erzählungen. Gebrüder Paetel, Berlin 1900, Seite 178. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Herzl_Philosophische_Erzaehlungen.djvu/183&oldid=- (Version vom 1.8.2018)