Ach, und da bin ich wieder heraufgekommen. Aber wie soll ich damit weiterleben, Herr Gerhard, wie soll ich damit weiterleben?“
Ich war so erschüttert. Ich wagte nicht, ihr zu widersprechen, zu fragen. Was ich in meinem Herzen an Trost fand, das brachte ich ihr bei. Ich sprach nicht mehr wie mit einem Kinde, denn wer solches erleidet, gehört schon zu den gereiften Duldern. Ich sagte ihr, welch eine Tröstung die Kunst mir in meinem eigenen Leben gewesen und wie sich durch die Kunst meine Schmerzen in lauter Blumen verwandeln, die wieder andere Menschen erfreuen, gerade die mühseligen und beladenen Menschen. Und dann mußte ich doch wieder lächeln, als sie kindlich einfältig fragte:
„Glauben Sie, Herr Gerhard, daß ich mir mit Clavierspielen darüber hinweghelfen kann?“
Ich bewog sie endlich, zur Ruhe zu gehen. Welche Wandlung vollzog sich aber in dieser Nacht im Gemüthe der kleinen Sarah? Durch welchen launenhaften Umsprung kehrte sich ihr Unwille gegen mich? Sie bereute vielleicht, einem Fremden die Schande ihres Hauses verrathen zu haben. Oder befürchtete die arme Unerfahrene, daß ich ihrem Vater etwas erzählen könnte? Dem wollte sie es um jeden Preis verheimlichen, das erkannte ich bald. Sie behandelte mich bis zur Rückkunft des Kommerzienrathes kalt und schroff. Es versteht sich, daß ich ihr auch nicht durch die verstohlenste Andeutung das Vorgefallene ins Gedächtniß rief. Einige Tage später benützte der Alte ein Alleinsein, um mir zu sagen:
„Denken Sie sich die Laune des Kindes, mein lieber Herr Gerhard! Sie hat plötzlich etwas gegen Sie – ich konnte nicht herausbringen, was. Ich halte es für eine der
Theodor Herzl: Philosophische Erzählungen. Gebrüder Paetel, Berlin 1900, Seite 50. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Herzl_Philosophische_Erzaehlungen.djvu/55&oldid=- (Version vom 1.8.2018)