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erscheint einem dann die ganze Welt! Das Räthsel des Glückes hat für jeden Menschen eine andere Lösung. Die meinige ist: nicht genug Geld haben. Ich war oft so glücklich.

Ich stieg also eines schönen Morgens am Kai von Santa Lucia in die tanzende Barke und ließ mich an den Dampfer übersetzen. Wir fuhren. Anfangs sah ich nicht ohne Melancholie nach dem anmuthreichen Orte zurück, an dem ich außer einigen unglücklichen Sperrsitz-Inhabern auch noch eine Gläubigerin meiner Liebe verlassen hatte: Madamigella Teresina vom Ballet des Teatro San Carlo, die sich während der letzten Wochen meiner irdischen Glückseligkeit angenommen hatte. Ein liebes Geschöpf! Sie schwor immer, sie werde es nicht überleben, wenn ich je von ihr ginge. Sie malte mir die Todesarten, die sie wählen würde – täglich eine andere – mit verschwenderischen Farben. Ich glaube so etwas immer. Auf dem Schiffe nun dachte ich darüber nach, ob die Heißgeliebte zehn Minuten oder gar eine Viertelstunde lang untröstlich sein werde. Da mir aber diese Gedanken auf die Dauer zu schwarz wurden, so vertiefte ich mich in den aufheiternden Anblick eines blonden Haarknotens, der glücklicher Weise mit an Bord war. Das reine gesponnene Gold. Die Besitzerin, eine junge Engländerin, die keinen Blick von ihrem Reisebuche verwandte. Wenn diese Engländerinnen sich entschließen, schön zu sein, dann sind sie es überraschend. Die, von der ich spreche, hatte sogar kleine Füße. So klein – ich übertreibe nicht. Und dabei die hohe Wölbung, genau nach der alten Schönheitsregel, daß ein kleiner Vogel darunter Platz haben müsse. Ich nenne deshalb Füße dieser Art: zwitschernde Füße. Ich möchte ihnen immer gerne meinen Sammetmantel unterbreiten,

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Theodor Herzl: Philosophische Erzählungen. Gebrüder Paetel, Berlin 1900, Seite 72. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Herzl_Philosophische_Erzaehlungen.djvu/77&oldid=- (Version vom 1.8.2018)