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Die Gewissenswunde


Ich saß in dem sauber schimmernden Frühstückszimmer des Amsterdamer Hotels, in dem ich die Nacht verbracht hatte, und stärkte mich für den geschäftlichen Besuch, wegen dessen ich die schnelle Reise nach der Stadt der Grachten unternehmen mußte. Gerade stellte ich voll Behagen einsame Betrachtungen an über die Vorzüge solch eines üppigen Frühstücks, wie man es nur in Holland findet, als zwei weitere Gäste eintraten, anscheinend Vater und Tochter, und als dritter im Bund ein großer Airedale-Terrier, den die Dame an der Leine führte. Es war ein seltsames Kleeblatt und riß mich aus meiner behaglichen Genießerstimmung etwas heraus. Von dem roten Gesicht des Alten hob sich ein weißer Schnurrbart, als wäre er von Watte, so sah er wie ein alter Haudegen aus, doch unter der hohen Stirn mit dem weißen Schopf blickten traurige, jammernde Augen hervor. Die Dame im Alter von vielleicht dreiundzwanzig Jahren war eine Schönheit, aber so bleich, mit so müden Zügen im Gesicht, daß sie an eine geknickte, welkende Blume erinnerte; sie bewegte sich außerordentlich langsam, und alle Kraft zum Leben schien aus diesem schönen, schlanken Leibe in rostrotem Seidenkleide entwichen. Der Hund beeilte sich, sobald die Dame ihn von der Leine gelöst, mich zu beschnuppern, doch die Dame rief ihn mit matter Stimme: „Bijou!“, ein Name, der zu dem großen, stämmigen, nervigen Tier wie die Faust aufs Auge paßte, auf den der Hund aber unweigerlich hörte. Das Paar ließ sich mir gegenüber nieder, wir grüßten einander höflich mit leisem Kopfnicken, und der

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Aurel von Jüchen: Frauenleben im Weltkriege. Xenien-Verlag, Leipzig 1915, Seite 118. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:J%C3%BCchenFrauenlebenImWeltkriege.pdf/120&oldid=- (Version vom 1.8.2018)