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mich aufs tiefste, und bei dem wundervollen Satze Marcia funebre sulla morte d’un Eroe hatte ich eine Erscheinung. Ich sah in der Ecke als leibhaftig ein schmales Weib in weißem Faltengewand. Ihr Blick war mild, so mild wie Jesusaugen, auf mich gerichtet, und ich hatte die Empfindung, als wünsche sie die Rose, die ich an der Brust trug; zugleich fühlte ich, daß ich ihr sie unmöglich geben könne. Da wurde ihr Blick immer ernster und strenger: Mosesaugen! Angstvoll riß ich die Rose von der Brust, um sie ihr zu geben, da war die Erscheinung verschwunden. Was mag sie bedeuten? Muß ich meinen Siegfried, meinen blonden Liebling, in seiner frischen, unversehrten Jugendblüte mit all ihrer üppigen Lebensverheißung dem Vaterland opfern? Ach, ich bin keine spartanische Mutter, ich würde zugrunde gehen.

4. August. Heute nachmittag war ich im Reichstag auf der Tribüne und hörte den Bericht des Reichskanzlers über das Drama der letzten Tage. Unbeschreibliche Erregung. Die Schranken zwischen dem Haus und uns Zuhörern waren wie weggeblasen von dem Frühlingssturm einmütiger Begeisterung für unser gutes Recht. Auch England wird uns den Krieg erklären, so ist das Rudel Wölfe zusammen, und wir wissen von vornherein, woran wir sind. Wir müssen siegen, wir werden siegen oder untergehen. Oh, wie fühle ich mich emporgehoben über mein eigenes Ich. Wir haben Siegfried unsere Einwilligung gegeben. Wie mein Vater 1870, so soll jetzt mein Sohn aus freiem Willen für unser Volk kämpfen. Ich schenke dem Vaterlande, dem Liebsten, was ich heute kenne, meine Rose. Wenn Siegfried wiederkehrt, nehme ich ihn als neu geschenkt. So groß ist die Not, daß jedes Einzelweh in der Flut zerrinnen muß.




Hier ist das Tagebuch zu Ende. Frau Thea ist nämlich im Kriegsliebesdienst so stark beschäftigt, daß sie keine Zeit mehr zum Schreiben findet. Das tapfere Frauchen ist

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Aurel von Jüchen: Frauenleben im Weltkriege. Xenien-Verlag, Leipzig 1915, Seite 18. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:J%C3%BCchenFrauenlebenImWeltkriege.pdf/20&oldid=- (Version vom 1.8.2018)