Zum Inhalt springen

Seite:Jahn Das Volksmaerchen in Pommern.djvu/13

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

bin ich in der Folgezeit glücklicher; denn es ist ständige Gewohnheit auf dem Lande bei beiden Geschlechtern, vorzugsweise aber bei den Frauen, alle Lieder, die ihnen wohlgefallen, aufzuschreiben und sorgsam zu verwahren. Am Ende läßt sich das alte pommersche Lenorenlied dort noch auftreiben, wenn es nicht gelingen sollte, es aus mündlicher Quelle zu erfahren. – Mit den eingeschalteten oder angefügten Liedern ist es also genau so bestellt, wie mit den Mordthaten, welche von den Bänkelsängern verbreitet werden: erst die Erzählung in Prosa, dann das Gedicht.

In einem Märchen meiner Sammlung, welches den auch sonst bekannten Stoff enthält, daß eine Königin in Pilgertracht durch ihr Harfenspiel ihren Gemahl dem türkischen Sultan abgewinnt und von der Sklaverei erlöst, ist das Lied, welches, beiläufig gesagt, zehn Strophen in je vier sechsfüßigen Jamben, die Cäsur in der Mitte, enthält, in den Gang des Märchen verknüpft worden. Trotzdem wird es auch selbstständig, d. h. losgelöst von dem Märchen, gesungen, und in diesem Falle wiederum erst dann, nachdem dasselbe in ungebundener Rede vorgetragen ist. Ich möchte glauben, daß diese Verbindung von gebundener und ungebundener Rede, von Sagen und Singen, uralt ist und daß auch in solcher Weise die Heldensage und der Mythus ursprünglich wiedergegeben wurde. Nur so läßt sich, meiner Ueberzeugung nach, begreifen, daß die knappen, kurzen Heldenlieder der Masse des Volkes, welche einer breiten, gemüthlichen Darstellungsweise gewiß im Alterthume nicht weniger wie heutzutage durchaus bedürftig waren, so wohl gefielen und wahrhaft volksthümlich waren. Die Lieder, welche noch heute im Anschluß an die Historjen und Sagen in Pommern gesungen werden, ähneln in ihrer gedrungenen Kürze und in ihrer Unverständlichkeit ohne vorher gegangene Prosaerzählung ganz den alten Heldenliedern.

Man findet häufig die Ansicht vertreten, daß die Märchen vom Volke mit starrer Aengstlichkeit überliefert würden, so

Empfohlene Zitierweise:
Ulrich Jahn: Das Volksmärchen in Pommern. Hessenland, Stettin 1887, Seite 132. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Jahn_Das_Volksmaerchen_in_Pommern.djvu/13&oldid=- (Version vom 18.5.2019)