Zum Inhalt springen

Seite:Jahn Das Volksmaerchen in Pommern.djvu/14

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

daß in Jahrhunderten kaum kleine Aenderungen darin eintreten könnten. So weit es sich um den Kern des Märchens handelt, hat das seine Richtigkeit, denn die Märchenkerne ändern sich wenig und sind sich zum Theil wirklich im Laufe von Jahrhunderten nachweisbar völlig gleich geblieben. Im übrigen ist das Märchen aber durchaus als etwas Lebendiges anzusehen und wächst als solches, verändert sich und ist fortbildungsfähig. Ich machte schon vorher auf die märchenhaften Züge aufmerksam, deren Verwendung seitens der Märchenerzähler eine verhältnißmäßig freie genannt werden darf. Dazu kommen nun noch einige andere Punkte, welche die Veränderlichkeit des Märchens bedingen.

In erster Reihe ist es die Individualität des Erzählers. In unsern Märchensammlungen wird zwar, nach dem Vorgange der Gebrüder Grimm, immer betont, daß die Märchenerzähler genau bei der Erzählung bleiben und auf ihre Richtigkeit eifrig sind, daß sie niemals bei einer Wiederholung in der Sache etwas abändern und ein Versehen mitten in der Sache gleich selber bessern, und das ist auch richtig, soweit es sich um perfekte Märchenerzähler und um Kinder handelt, welche letztere sich so lange vorerzählen lassen, bis sie wortgetreu auswendig können; aber bis der Märchenerzähler perfekt geworden ist, wirkt bei ihm, wenn auch ganz absichtslos, seine Individualität auf das Märchen ein. Ein Schuster pflegt alle bösen Menschen in seinen Märchen zu Schneidern zu machen; ein Frauenzimmer stempelt jedes böse Weib zu einer Stiefmutter um, daher auch in den Märchensammlungen die vielen bösen Stiefmütter, weil die Sammler fast durchweg Frauen zu ihren Quellen gehabt haben. Das drastischste Beispiel für das Einwirken der Individualität des Erzählers auf seine Märchen fand ich bei einem alten Knecht aus dem Ueckermündischen. Wochenlang hatte ich versucht, mir das Zutrauen des Mannes zu gewinnen; ich wußte schon seine ganzen Familiengeheimnisse, den Stand und die Geburtstage, alle seine schutzbefohlenen Rinder und Schweine,

Empfohlene Zitierweise:
Ulrich Jahn: Das Volksmärchen in Pommern. Hessenland, Stettin 1887, Seite 133. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Jahn_Das_Volksmaerchen_in_Pommern.djvu/14&oldid=- (Version vom 1.8.2018)