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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang

 In der Action ist die französische Armee drohend wie der Blitz; die russische unerschütterlich wie der Fels. Die ungestüme Tapferkeit der einen hat Etwas vom Losbrechen des Sturms, die feste Unerschrockenheit der andern gleicht der Unbeweglichkeit der Zeit. Der Franzose ist furchtbar im Angriff, der Russe unermüdbar im Kampfe. Der eine ist heftig, wie die Flamme, der andere widersteht wie das Eisen. Mit Sturmschritt rückt der eine vor, kaum ein Marsch ist die Retirade des andern. Einen unvollständigen Sieg hat man selten gegen den einen, leichte Vortheile aber nie gegen den andern. Alles ist möglich in den Augen des Franzosen, verlangt das Unmögliche vom Russen und er antwortet sofort: es wird schon gehen (można). Der eine misst die Gefahr, um ihr zu trotzen, der andere tritt ihr dreist näher, um sie ins Auge zu fassen. Der eine nimmt sein Leben für ein Schwerd, der andere seinen Körper zu einem Schild. Liest man Homer, so möchte man glauben, Achilles wäre ein Franzose und Ajax ein Russe.

 Der Franzose giebt sich seiner Phantasie hin; er sieht alles mit Ueberspannung an, Glück und Unglück. Es ist nicht russischer Charakterzug aus einem Extrem in das andere überzuspringen. Man gebietet in gleicher Maasse über den Geist wie über den Arm. Das Genie des Feldherrn wirkt auf die Franzosen wie das Feuer auf das Pulver. Das Commando hat dieselbe Wirkung auf den Russen wie der religiöse Glaube auf den Menschen. Verachtung des Lebens ist Folge der Exaltation bei dem Franzosen, für den Russen ist sie Folge der Pflicht. Der eine opfert sich hin, der andere lässt sich todtschlagen[1].

 Der Franzose ist ehrgeizig, der Russe Eroberer. Der eine will sich erheben, der andere sich ausbreiten. Der eine sucht den Ruhm als Motiv zur Superiorität, der andere die Macht als Mittel zum Wohlsein und zur Bedeutung. Die Franzosen haben mit einem Satz Europa erobert, die Russen vermögen gewöhnlichen Schrittes Asien ihren Gränzen einzuverleiben. Der Franzose hat sich frisch gekräftigt durch die Freiheit, der Russe kann ein anderer werden durch die Aufklärung. Es scheint, als habe die Vorsehung, als sie diese beiden Völker wie ein Paar Waagschalen an die entgegengesetzten Endpunkte Europa’s setzte, sie mit grosser Macht bewaffnete und ihnen gleiche Interessen und eine instinctartige Neigung sich einander zu nähern gab, den Frieden Aller den wechselseitigen Beziehungen dieser beiden anvertrauen wollen.

Mos. v. Aehr.

IV.
Industrie und Oekonomie.
1. Ungarns Anschluss an den deutschen Zollverein.

 Unter diesem Titel erschienen im vorigen Jahre in der „Pesther Zeitung“ eine Reihe von Artikeln, die als „Votum“ aus der Feder eines der Vorkämpfer der magyarischen Interessen, Ludw. v. Kossuth, geflossen sind. (Deutsch: Leipzig 1842, Einhorn.) In den zwei ersten Artikeln spricht der Journalist über die Entstehung, den Endzweck und die Wirkungen des Zollvereines, wie sie sich bisher gezeigt haben. Die letzten fasst er mit den Worten zusammen: „Alles zusammen genommen kann man wohl behaupten, dass die Staaten des Zollvereins innerhalb zehn Jahren an Wohlstand, Industrie, nationalem Selbstgefühl und Nationalkraft um ein Jahrhundert vorwärts geschritten sind. In jenen zwei Worten: nationales


  1. Der Verfasser will damit keineswegs den Russen alle Thatkraft, allen Ehrtrieb absprechen. Das slawische Blut glühte stets für den Ruhm; aber in einer Parallele handelt sichs um die am meisten charakterisirenden Züge, und diese glaubte er in der Heiligkeit des Eides und im Gefühle des Gehorsams zu erblicken.
Empfohlene Zitierweise:
J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang. Robert Binder, Leipzig 1843, Seite 121. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Jahrb%C3%BCcher_f%C3%BCr_slawische_Literatur,_Kunst_und_Wissenschaft_1_(1843).pdf/132&oldid=- (Version vom 30.9.2019)