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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang

eine wissenschaftliche Bewegung nennen), sondern was noch viel schlimmer, dass selbst dieses erste wissenschaftliche Leben sogleich in seinem ersten Keime geknickt worden ist. Wir leiden an einer innern, einer seit Jahrhunderten bestehenden, einer nationalen Krankheit, die uns in Kurzem tödtet, wenn wir nicht bald ein Miitel gegen dieselbe finden. Die hauptsächlichste, ja beinahe einzige Ursache dieser Krankheit ist der Müssiggang (próżniactwo), mit welchem die Natur wegen gewisser Sünden alle slawischen Völkerstämme gestraft hat, von dem sie aber den Polen einen ungleich grösseren Antheil gegeben hat, als den übrigen Brudervölkern. Diesen vernichtenden und verdriesslichen Fehler auszurotten, gab es in unserem Vaterlande keinerlei aufmunternde Gelegenheit; denn 100,000 privilegirten Menschen zu gefallen, welche die Blüthe der Nation bildeten, arbeiteten einige 10 Millionen Sklaven in saurem, aber trägem Schweiss. Die Zeiten haben sich freilich geändert; aber die Gewohnheit ist zur zweiten Natur geworden und hat sich gleich einer epidemischen Krankheit allen Klassen der Gesellschaft mitgetheilt. Der Abscheu gegen jede, besonders eine geistige Arbeit, die eine dauernde Anstrengung und immerwährende Beschäftigung fordert, beherrscht noch bis zur Stunde, wie früher, alle Stände. Aus der aufgeklärten Klasse nimmt Keiner die Feder in die Hand; denn es fällt ihm eben so schwer, wie unserem faulen Bauer der Dreschflegel; ein Büchlein nimmt selten Einer zur Hand; denn man muss bei ihm sitzen bleiben, und der bewegliche Pole bedarf einer unaufhörlichen Aufregung und ist heute in der Stadt, morgen bei seinem Nachbar, in einer Woche in Paris, in Rom, an einem Badeorte u. s. w. Immer aber beschäftigt ihn eine „Affaire“, immer strotzt sein Kopf von grossen, aber stets neuen Projekten. Der windbeutliche Müssigang, der ihn keine Stelle warmsitzen lässt, führt ihn zu Zerstreuungen, zum Luxus, zur Verschwendung seiner Zeit und seines Vermögens. Auf diese Weise geht das Land, das einzige materielle Gut, das uns von unseren Vorfahren verblieben, alltäglich mehr in die Hände Fremder über; auf diese Weise entnationalisiren wir uns selbst; und dass dabei auch unsere Nationalsache leidet, bedarf keiner weiteren Erörterung. Aus demselben Müssiggange entspringt die aller Ausdauer bare Veränderlichkeit und der Leichtsinn, der den Polen auch von der heiligsten Sache lossreisst. Unfähig, bei irgend einem Unternehmen bis zu Ende auszuharren, verlässt er das Eine, und hascht ohne den geringsten Aufenthalt nach einem Anderen, wie ein kleines Kind, das um einen neuen Ball das alte Pferd in den Winkel wirft; so amusiren ihn heute die Vorlesungen, morgen das Theater, übermorgen wissenschaftliche Sitzungen, dann nationale Resourcen, Eisenbahnen, ja er sammelt zum Besten der Armen selbst Knochen auf der Strasse; aber das Alles nur kurze Zeit, und dabei ist er stets durch Kleinlichkeiten zersplittert, aber sorgfältig darauf bedacht, womit er in der nächsten Woche sich unterhalten könne; er schreibt dem geringfügigsten, gleichgültigsten Dinge eine ausserordentliche Wichtigkeit in der Hauptsache, dem Nationalinteresse, zu, hält dabei aber die Sprache, diese in unserer Angelegenheit entschiedene Grundstütze, und die Geschichte des Landes und die Wissenschaften für das fünfte Rad am Wagen, als seien sie schon allgemein zur Geltung gebracht, obgleich ihm gerade hierin der Fortschritt seiner Gegner die Augen öffnen sollte, die immer mit der Ausrottung der ihnen fremden Sprache und Literatur beginnen, wohl wissend, dass sie damit das Herz der Nationalität treffen.

 Aus demselben windbeutlichen Müssiggange entspringen: der in Alles sich stürzende, alles verwirrende Ungestüm, der Stolz, der unter dem Vorwande, den socialen Fortschritt zu fördern, Parteien schafft und in der Gesellschaft den Ton angeben will, wie er einst unter dem Vorwande des öffentlichen Wohles und des Schutzes der goldenen Freiheit die Familien- oder Korporationsinteressen, oder gar den schmutzigen Egoismus beförderte, als könnt’ es irgend einen Fortschritt geben ohne Wissenschaft, und irgend eine Wissenschaft ohne Arbeit.

Empfohlene Zitierweise:
J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang. Robert Binder, Leipzig 1843, Seite 415. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Jahrb%C3%BCcher_f%C3%BCr_slawische_Literatur,_Kunst_und_Wissenschaft_1_(1843).pdf/426&oldid=- (Version vom 14.2.2021)