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sie gestattet ihnen aber meist nicht, zu den betreffenden Fragen einen weiteren und allgemeineren Standpunkt zu gewinnen. Dies aber gestattet die Wissenschaft, denn es ist ihre Aufgabe. Ich bitte Sie, einen schnellen Rückblick über die Besprechungen dieses Abends zu werfen: Nicht wahr, Sie werden sich erinnern, daß nicht das geringste Verwerfungsurteil über irgend eine Art oder Richtung der Kunst gefallen ist, ohne welche sonst doch ein theoretischer Kunstvortrag beinahe unmöglich ist? Das ist ja der große Segen der Wissenschaft, daß sie erstens durch ihre Aufgabe der Allgemeinheit schon von vornherein verpflichtet ist, alles zu verstehen, und daher auch nach dem alten Worte alles zu verzeihen, soweit überhaupt von Verzeihen die Rede sein kann. Der andere, besondere Segen liegt darin, daß ein jeder Künstler und ein jeder Kunstfreund an der Hand der gewonnenen wissenschaftlichen Klarheit über das Wesen und den Zweck der Kunst sein eigenes und das fremde Kunstwerk fragen kann: Welche Gefühle vermagst Du zu erwecken, wie schöne und starke und willkommene? Und wenn er sich die Antwort zu geben versucht, so wird ihm das ausgeprägt subjektive Element in dieser zum Bewußtsein kommen, und er wird sich sagen, daß ein anderer ganz wohl weniger stark oder stärker fühlen könnte, als er. Das wird ihn

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Wilhelm Ostwald: Kunst und Wissenschaft. Verlag von Veit und Comp., Leipzig 1905, Seite 39. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kunst_und_Wissenschaft.pdf/45&oldid=- (Version vom 1.8.2018)