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67.
Farrnsamen.

Dem Farrnsamen schreibt der Volksglaube in Thüringen die Kraft zu, diejenigen unsichtbar zu machen, die ihn in der Mitternachtstunde auf den goldenen Sonntag oder in der Johannisnacht erlangen. In dieser Nacht gelangt der Same zur völligen Reife, fällt dann ab, und verschwindet plötzlich. Auch hat, wer diesen Samen besitzt, Glück im Spiele und kann jeden Tag zum Freischütz werden, denn jeder Schuß, den ein solcher Mann thut, fehlt nimmer. Manche setzten schon Leib und Leben, ja das Heil ihrer Seelen daran, Farrnsamen zu erlangen, oft mit großer Fährlichkeit, daher dieser Same auch Fahrsame genannt wird – und es schlug ihnen dennoch fehl; andere, die nicht danach suchten, die fanden und hatten ihn sonder Mühe und Fahr. So erging es einem Manne zu Berka. Sein Fohlen verlief sich im Walde, er suchte es lange, und fand es nicht – erst nach Mitternacht ging er verdrüßlich nach Hause und wußte nicht, daß er von Ungefähr auf reifendes Farrnkraut trat, und vom Samen ihm etwas in die Schuhe fiel. Erst gegen Morgen erreichte er sein Gehöft, mochte sich nicht erst zu Bett legen, sondern setzte sich, um auszuruhen, auf den Lehnstuhl am Ofen. Seine Frau, seine Kinder, sein Gesinde traten nach einander in die Stube, niemand bot ihm guten Morgen, niemand that, als ob der Hausherr zugegen sei. Jetzt sagte er: Ich habe das Fohlen nicht finden können. – Alle erschraken vor der bekannten Stimme, und die Frau rief: Mann! Wo bist Du denn? – Der Mann erhob sich vom Stuhle, trat unter die Seinen und sagte: Da bin ich ja; ich stehe ja

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Ludwig Bechstein: Thüringer Sagenbuch. Erster Band. C. A. Hartlebens Verlags-Expedition, Wien und Leipzig 1858, Seite 107. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ludwig_Bechstein_-_Th%C3%BCringer_Sagenbuch_-_Erster_Band.pdf/115&oldid=- (Version vom 1.8.2018)