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den Rasen breitete, mit der geschnittenen Wünschelruthe Kreise zog und dann auf einem Pfeifchen in seltsamer Weise pfiff. Da kamen aus allen Büschen und Felsklüften Schlangen herbei, und zuletzt ein großer Lindwurm, die zischten gräulich und ringelten sich, dann stieg von einem Ulmenbaume eine silberweiße Schlange nieder, das war der Otterkönig, und der kroch auf das Tuch, und legte auf demselben das goldene Krönlein ab, das er trug. Flugs sprang der Venetianer, denn ein solcher war der Mann, hinzu, schlug das Tuch zusammen, nahm das Krönlein an sich, und tödtete die weiße Schlange. Auch den Lindwurm tödtete er, und spießte ihn an einen Baum, dann pfiff er wieder, da krochen die andern Schlangen wieder von dannen. Den Otterkönig, oder es kann auch die Otterkönigin gewesen sein, zerstückte der Venetianer, und warf die Stücke in das Kesselchen, das der Hirte indeß mit Wasser aus den Silberborn gefüllt und über das Feuer gehängt hatte. Da nun die Stücke der silberweißen Schlange gar gekocht waren, an welche der Venetianer auch eine Handvoll Salz geworfen, so zog derselbe zwei hölzerne Löffel hervor, bot dem Hirten einen davon an, und lud ihn ein, an diesem Mahle Theil zu nehmen. Es schwammen prächtige Fettaugen auf der Brühe – gleichwohl war dem Hirten seltsam zu Muthe, und er empfand keinen Appetit nach Schlangensuppe. Doch „Zureden hilft,“ sagt das Sprüchwort, und endlich kostete der Hirte einen Löffel voll, und der schmeckte gar so übel nicht. Iß auch Fleisch! sprach der Venetianer: – es schmeckt wie Aal – aber dazu konnte sich der Hirte nicht überwinden. Er war ohnehin schon ganz verwirrt, denn kaum hatte er den Löffel voll Otterkönigssuppe hinunter, so sah er rings Wald und

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Ludwig Bechstein: Thüringer Sagenbuch. Erster Band. C. A. Hartlebens Verlags-Expedition, Wien und Leipzig 1858, Seite 234. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ludwig_Bechstein_-_Th%C3%BCringer_Sagenbuch_-_Erster_Band.pdf/242&oldid=- (Version vom 1.8.2018)