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189.
Der Ochse mit der Laterne.

In grauer Vorzeit schon saßen in der Herrschaft Kürbitz Herren von Feilitzsch, zwei Zwillingssöhne eines alten Lazarus von Feilitzsch, der eine Christoph, der andere Gottfried genannt; diese Brüder entzweiten sich nach dem Tode ihres Vaters und geriethen wegen der Erbschaftsvertheilung in heftigen Streit. An einem Herbsttage begegneten sie sich auf dem Wege von Kürbitz nach dem ebenfalls im Elsterthale liegenden nahen Dorfe Wirschlitz. Bei einer uralten Eiche, neben dem sogenannten Auteiche, welche erst vor etwa zwölf Jahren vom jetzigen Besitzer niedergeschlagen wurde, ließ der eine der beiden Brüder, Christoph, sich so vom Zorn hinreissen, daß er das Schwert gegen den Bruder zog; Gottfried griff nun auch zur Wehr und beide geriethen so heftig aneinander, daß sie sich gegenseitig schwer verwundeten und bald darauf ihren Geist aufgaben. An derselben Stelle, wo sich die Zwillingsbrüder erschlagen, wurden sie begraben und die Wurzeln der Eiche wuchsen über ihre Gebeine. Doch wurde ihnen nicht die Ruhe des Grabes zu Theil, denn von ihrem Todestage an bis auf die jetzige Zeit steigt in mitternächtlicher Stille ein mächtiger Ochse mit einer brennenden Laterne am Horne aus dem Grabe hervor und erschreckt von da bis nach Kürbitz und wieder zurück mit schrecklichem Gebrülle den einsamen Wanderer. Der Ochse aber ist nichts andres, als die Hülle, in welcher der Geist des Christoph von Feilitzsch, dem sein Verbrechen keine Ruhe läßt, erscheint. Die brennende Laterne zeigt ihm den Weg und leitet ihn sicher unter die Erde zu den Gebeinen seines Bruders zurück.

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Ludwig Bechstein: Thüringer Sagenbuch. Zweiter Band. C. A. Hartlebens Verlags-Expedition, Wien und Leipzig 1858, Seite 63. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ludwig_Bechstein_-_Th%C3%BCringer_Sagenbuch_-_Zweiter_Band.pdf/65&oldid=- (Version vom 1.8.2018)