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Der Stelzenbaum, zweite Sage.

Eine ganz andere Sage vom Stelzenbaum lautet: Ein Herrenschäfer hüthete nahe bei Stelzen seine Heerde auf dem abgeärnteten Felde jenes Hügels, als eine Anzahl Bauern von Stelzen auf ihn zuliefen und ihn mit harten Drohworten begrüßten, daß er auf ihrem Felde hüthe, und von den harten Worten kam es zu noch härteren Schlägen, denn die Wuth der Bauern war grenzenlos. Der Schäfer stieß seinen Stab in den weichen Boden, klammerte sich daran, indem er auf seine Kniee fiel und rief: Dieser dürre Stecken soll bezeugen, daß ich that nach meines Herrn Gebot, und nicht, wie ihr sagt, aus eigenem Antrieb, und daß ihr mich Unschuldigen hier zu Tode geschlagen! Grünen soll er und blühen, euch zum Verderben! Noch ein Knüttelschlag, und der Schäfer hörte auf zu leben. Die Mörder flohen. Man hatte des Schäfers Leiche gefunden, aber niemand hatte sich um den Stab gekümmert, der war unbeachtet in der Erde stecken geblieben. Wie der Frühling kam, bestellten die Mörder ihr Feld auf ihrem Hügel, und da sahen sie eine unliebe Erinnerung ihrer Unthat, den Schäferstab, und einer ging hin, den Stab aus der Erde zu ziehen; er zog und zog, aber der Stab folgte seiner Hand nicht, denn er war festgewurzelt, und hatte frische Triebe, die schon ausschlugen. Der Stab war zum Baum geworden, und stand ein Zeuge der Unschuld des Ermordeten. Die Mörder alle nun vernahmen’s und sahen’s, das göttliche Wunder, und erbebten tief im Herzen. Zwar verhehlten sie auch ferner ihre That, aber sie schlichen

Empfohlene Zitierweise:
Ludwig Bechstein: Thüringer Sagenbuch. Zweiter Band. C. A. Hartlebens Verlags-Expedition, Wien und Leipzig 1858, Seite 71. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ludwig_Bechstein_-_Th%C3%BCringer_Sagenbuch_-_Zweiter_Band.pdf/73&oldid=- (Version vom 1.8.2018)