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Ludwig Hevesi (1843-1910): Ludwig Speidel, Schriftsteller

über Helene Hartmann etwa und Charlotte Wolter. Selbst auf der Reise trat ihm gelegentlich eine solche Weiblichkeit entgegen und regte ihn zum Formen an; etwa die alte polnische Gräfin in Krapina-Teplitz, wo er öfters zur Kur weilte. Das ergreifendste dieser Stücke heißt »Alte Mädchen« (1876). Wie viele stille Tränen schmerzlich süßen Trostes und elegischer Ergebung haben dieses Zeitungsfeuilleton benetzt. In wie vielen Ausschnitten, mit arbeitgewohnter Schere, ruht es auf dem Grunde irgend welches altjüngferlichen Reliquienschreines weithin durch das große Wien. Aus wie vielen einsam stillen Herzen heraus ist dieses Feuilleton geschrieben. Den »Pindar der alten Jungfern« nennt er sich hinterdrein einmal, im Scherz über die eigene Bewegtheit. Und wer für das Weib fühlt, fühlt auch für das Kind. »Ein Fatschenkindlein, kaum vierzehn Tage alt, ist der Held dieses liebenswürdigen Gemäldes«, heißt es in einem frühen Weihnachtsfeuilleton: »Aus der Kinderstube.« Und Weihnachten 1872: »Wir glauben Kinder zu machen und werden von ihnen gemacht, wir glauben Kinder zu erziehen und werden von ihnen erzogen.« Ein wahres Kinderfest ist es ihm sogar, wenn er schildert, wie Mitterwurzer einem erwachsenen Publikum Märchen vorliest (»Märchenhaftes«). Wenn er solche intime Dinge schreibt, steht er so mitten in ihnen, zugleich aber hoch darüber, mit dem Blick hinab und hinein und hindurch bis auf den Grund. Das ist der eigentümliche Charakter dieser so esoterisch anmutenden Schriften. Er ist ein Durchschauer, darum sieht er auch sofort das Undurchschaubare. In allen diesen anscheinend so offenbaren Dingen geht ihm das Geheimnis auf und rührt ihn mit leisen Schauern an, die hinüberzittern in die Nerven des Lesers. Wie ratlos steht er dann vor dem Mysterium, und auch diese Attitüde ist eine ihm eigene. Und die leise, kaum einbekannte Rührung ob dieser Ratlosigkeit. Seit Jean Paul ist in deutscher Sprache solches nicht geschrieben worden. In englischer eher; Carlyle, Emerson, Ruskin.

Auch seinen Freunden hat er solche kleine Denkmäler gesetzt. Ich sage Freunden, aber das Wort spielt in allerlei Schattierungen. Der Begriff reicht vom Schulkameraden Schenner bis zum Stammtischgenossen (der stille, ehrenfeste Kaufmann Ludwig fällt mir ein), von der lauteren Cölestine bis zum einsamen Spatzen, dessen öde Weihnachten er schilderte. »Einsame Spatzen«, ja, das ist wieder eines jener unvergeßlichen Feuilletons, von denen die Generation spricht, so lange sie eben noch am Leben ist. Der Held dieser ganz besonderen Stimmungsstudie ist nicht genannt. Es war einer meiner Kollegen vom Wiener »Fremden-Blatt«, Ludwig Porges. Ein schlichter, treuer Mann, nicht ohne eigenen Zug von angesäuerter Lebensfreude und resigniertem Trost im Humpen. Nebenbei Jude, getauft, aber mit plötzlichen jüdischen Jahren zwischendurch; wer kennt die Schleichwege des Gemüts und seiner Atavismen? Er hatte in der Redaktion einen großen Käfig stehen, mit einer aus Dalmatien zugesandten Schwarzdrossel oder Blauamsel (ich bin kein Ornithologe), die in der Mundart »einsamer Spatz« heißt. Jahrelang saß der dunkle Vogel in dem großen Käfig und wenn er sang, liefen dem alten verwitterten Junggesellen am beklecksten Bureautisch, dem verwittwet geborenen Tintenkuli mit der rostigen Schere in der Hand, dicke Tränen über die Backen. Der einsame Spatz war dem einsamen

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Ludwig Hevesi (1843-1910): Ludwig Speidel, Schriftsteller. Reimer, Berlin 1908, Seite 212. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Ludwig_Speidel,_Schriftsteller.pdf/20&oldid=- (Version vom 1.8.2018)