Herman Melville Übersetzt von Rudolph Garrigue: Vier Monate auf den Marquesas-Inseln oder ein Blick auf Polynesisches Leben 2. Theil | |
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so fürchterlichen Betrachtungen und ich fühlte mich überzeugt, daß mir das Schlimmste begegnen würde; aber wie groß auch meine Befürchtungen waren, so verbarg ich sie sowol, als die volle Ausdehnung der Entdeckung, welche ich gemacht hatte, auf das Sorgfältigste vor den Insulanern.
Obgleich mich die Versicherungen der Typies, welche sie oft wiederholten, daß sie nie Menschenfleisch äßen, nicht überzeugt hatten, daß dies wirklich wahr sei, so war ich doch jetzt so lange im Thale gewesen, ohne eine Spur zu bemerken, welche auf Cannibalismus hätte schließen lassen können, und ich fing daher an zu hoffen, daß es wenigstens ein höchst seltener Fall sei und daß es mir erspart werden würde, während meines Aufenthaltes unter ihnen Zeuge eines so schrecklichen Ereignisses zu werden; aber ach, diese Hoffnung wurde bald vereitelt.
Es ist eine sonderbare Thatsache, daß wir in allen Erzählungen von cannibalischen Stämmen nur selten Berichte von Augenzeugen bei einem so schrecklichen Verfahren finden. Der fürchterliche Schluß wird fast immer aus Erzählungen zweiter Hand abgeleitet oder erhellt aus den Zugeständnissen der Wilden selbst, nachdem sie einigermaßen civilisirt worden sind. Die Polynesier kennen den Abscheu, welchen die Weißen vor dieser Sitte haben, und leugnen daher hartnäckig ihr Bestehen, so wie sie mit der, den Wilden eigenthümlichen, List jede Spur derselben zu verbergen suchen.
Herman Melville Übersetzt von Rudolph Garrigue: Vier Monate auf den Marquesas-Inseln oder ein Blick auf Polynesisches Leben, 2. Theil. Gustav Mayer, Leipzig 1847, Seite 201. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Melville-Vier_Monate_auf_den_Marquesas-Inseln._Teil_2.djvu/207&oldid=- (Version vom 1.8.2018)