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Seite:Meyers Universum 9. Band 1842.djvu/215

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CCCCXVIII. Der Montblanc.




Was sehe ich? Eine Sarggestalt zwischen dem Wolkenhimmel und der Erde, und ausgebreitet über derselben ein weites, weißes Bahrtuch. Gletscher sind seine Zipfel, Bergcolosse das Postament des Katafalks; Opfer dampfen aus der Tiefe hervor als schwarzgraues Gewölk. Soll etwa Europa begraben werden? Sind seine Völker gestorben, seine Städte in Staub zerfallen, seine Reiche und Staaten vergangen, wie leere Schatten? Oder was deckt sonst dies Leichentuch? Deckt’s das erloschene Licht der Wahrheit, deckt’s erstorbene Gewissen, eingeäscherte Hoffnungen, verglommenen Trost, versteinerte Herzen, gebrochene Schwüre, zertretene Verheißungen, niedergeworfene Menschenrechte – deckt’s Leichen des sittlichen Lebens, oder Schlachtfelder der Geister? oder deckt’s Scheintodtes? deckt es Lebendiges? Ist’s doch, als wollte die Gestalt unter der weißen Hülle sich emporheben, als möchte sie ihre Arme gen Himmel ausstrecken unter der schweren Decke, als wollte sie rufen: Herr, komme herab auf meine Erde!

Es ist nicht so. Nur Scherben zerschlagener Gebirge bergen sich unter des Montblancs Eis- und Schneemantel, der Schutt und der Staub zerbrochener Erdrinden. Europa liegt nicht im Sarge, wie meine mitternächtliche Phantasie mir vorgegaukelt. Europa’s Scheitel strahlt verklärt, rosenfarbig, freudig, voller Leben. Müßte die rüstige Gegenwart dennoch ein Begräbnißtag seyn, so sey er es für das Morsche, Welke, Faule; es werde eingescharrt das Ueberlebte, das, was der Gegenwart fremd ist, was mit ihrem Leben in Widerspruch sich findet und seine Entwickelung hemmt; es werde begraben der Nimbus der Heuchelei, des Luge und der Schlechtigkeit, die Glorie der Niedertracht in Kirche, Staat und Leben. Glänzt aber der Montblanc im Morgenroth, so sey es und die Andeutung einer bessern und schönern Zukunft, und der Lavinendonner, der um ihn hallt, werde uns ein Verkündiger des Frühlings, der Europa’s altem Eichstamm frische Blätter bringt, wo er neue Kräfte saugt und fester und tiefer seine Wurzeln treibt, um die Stürme späterer Zeiten sicherer zu überdauern. Hat auch Europa, dessen höchster Scheitel dort über die Bergwelt ragt, bei Menschengedenken sehr Schweres ertragen und viel gelitten, so viel, daß Manche an seinem Genesen verzweifelten, so ist ihm doch am Schmerzenslager ein zweites Leben aufgegangen, und ehe das Jahrhundert herabrollt, wird sich dieser neue Lebenskeim