Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band | |
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wird auch der Weg pfadloser, die Gegend verlassener. Ehe man noch die Grand-Mulets, ein obeliskenartiges Felsbündel (bei 10,000 Fuß Meereshöhe) erreicht, sieht sich der Reisende schon in einem Felslabyrinthe befangen, welche die Formen von Mauern, Thürmen, Basteien haben, oder als scharfkantige Pyramiden aufsteigen, oder als Riesendenksäulen emporstreben, gegen welche die von Menschenhand geformten wie Nadelspitzen erscheinen. Und doch sind sie selbst, gegen die ungeheuere Masse des Bergs verglichen, nur „Nadeln“ – wie sie auch von den Alpbewohnern geheißen werden. In Spalten und Ritzen schimmert schon Schnee, weissagend das Nahen der Region des ewigen Winters. An den senkrechten, oft 1000 Fuß hohen Feldwänden stürzen und rieseln an unzähligen Stellen die Wasser hernieder, welche die stechende Sommersonne von den höher hinanliegenden Eisfeldern schmilzt, und zwischen den Klüften des Gebirgs zur Rechten senken sich, wie schauerliche, in ihrem Laufe erstarrte Ströme, deren Fesseln auch der Sonne stärkste Gluth nicht lösen kann, die ungeheuern Gletscher bis zum Wege herab. Endlich betritt man die Gletscher selbst, welche, geschmückt mit unzähligen krystallfarbigen Pyramiden, von des Montblancs Mittelzone herabsteigen.
In der Nähe der Grand Mulets, in eine der vielen von überhängenden Felsen gebildeten Grotten wird gewöhnlich übernachtet. Häufig sind hier in den Sommernächten heftige Gewitter, und der Reisende wird dann durch ein unvergeßliches Schauspiel der Natur erfreut. Das Gewitter ist nämlich stets unter seinen Füßen. Bald sieht er auf ein Feuermeer herab, bald in die schwärzeste Nacht, und die Schläge rollen in den Gebirgen fort, wie Donner von tausend schweren Geschützen. Eine Menge Lavinen reißen sich los von den benachbarten Aeguilles und Domen, und ohne alle Gefahr sieht er sie rechts und links beim Leuchten der Blitze herniedergehen. –
Die Wanderung am nächsten Morgen beginnt auf der Decke des ewigen Eises. Vor dem zagenden Blicke thürmt sich eine Wüste empor, deren Abglanz das Auge blendet. Hie und da haben die Guiden, die zum Theil voraus gegangen waren, hohe Stangen mit Strohbüscheln in das Eis gesteckt, um die Richtung des Wegs anzugeben. Ohne diese Erkennungszeichen würde die Fahrt noch gefährlicher seyn und der Reisende leicht in die unergründlichen Spalten und Schlünden stürzen, welche die Eis- und Schneefelder nach allen Richtungen durchkreuzen. Manche derselben sind bis zum Rande mit Wasser gefüllt; weiter hinan sind sie mit einer dünnen, trügerischen Eisdecke, oder mit Schnee geschlossen. An solchen Stellen stecken die Warnungszeichen der vorausgegangenen Guiden und schützen vor Lebensgefahr. Man erreicht das Grand Plateau, eine Terrasse etwa 12,000 Fuß hoch. Hier wird zum letztenmale ausgeruht und gefrühstückt.
Von dieser Station an beginnen die größten Beschwernisse der Bergreise. Die Luft ist äußerst kalt geworden. Schweres Athmen stellt sich ein, Brustschmerzen, Stechen im Kopfe, Augenwehe, Ohrenbrausen, Schwindel, außerordentliche Schwäche und Niedergeschlagenheit. Und in diesem Zustande wandert der Mensch
Joseph Meyer: Meyer’s Universum, oder Abbildung und Beschreibung des Sehenswerthesten und Merkwürdigsten der Natur und Kunst auf der ganzen Erde. Neunter Band. Bibliographisches Institut, Hildburghausen, Amsterdam, Philadelphia 1842, Seite 209. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Meyers_Universum_9._Band_1842.djvu/217&oldid=- (Version vom 5.1.2025)