Da die Ostjuden zur Zarenzeit der unmittelbaren Vergangenheit von der Besiedlung des flachen Landes so gut wie völlig ausgeschlossen waren, so ist nunmehr der Gegenstoß erfolgt, und die Auffassung wurde die herrschende, daß so etwa die überwiegende Masse der Juden zweckmäßigerweise zu Bauern gemacht werden müßten; eine Anschauung und ein Ziel, das ich für völlig verfehlt erachte.
Schon eine einzige Ueberlegung sollte Klarheit in dieser Beziehung schaffen.
Ein erfolgreicher Betrieb der Landwirtschaft, ganz besonders der bäuerlichen Landwirtschaft, setzt eine ganz bestimmte körperliche, aber auch intellektuelle Eignung für diese Art der wirtschaftlichen Betätigung voraus; im Einzelnen diese Eignung zu charakterisieren, ist umso weniger geboten, da diese Materie oft genug behandelt worden ist.
Bauern und Städter sind verschiedene körperliche und intellektuelle Typen. Der Mechaniker und der Schneider können der körperlichen Kraft und der Widerstandsfähigkeit gegen Witterungseinflüsse entbehren, die der Bauer unter allen Umständen besitzen muß. Und diese Unterschiede und Gegensätze lassen sich durch zahlreiche Berufe hindurch verfolgen.
Demnach wäre es ein vollkommener Mißgriff, die Masse der Juden des sogenannten früheren Rayons ausnahmslos oder zum ganz überwiegenden Teil in die Landwirtschaft hinüberführen zu wollen. Es muß differenziert werden, und es müssen landwirtschaftlichen Betrieben nur jene zugeführt werden, die für diese Arbeit die Eignung und Voraussetzungen bieten; andere eignen sich als Arbeiter in Fabriken oder in Bergwerken – sehr gute Erfahrungen haben wir in den westfälisch-rheinischen Gruben mit jüdisch-russischen Arbeitern während des letzten Krieges und nach
Paul Nathan: Das Problem der Ostjuden. Philo Verlag und Buchhandlung GmbH, Berlin 1926, Seite 27. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Nathan-Das_Problem_der_Ostjuden_(1926).djvu/27&oldid=- (Version vom 1.8.2018)