die Unvereinbarkeit dieser Angabe mit den wirklichen Tatsachen, selbst wenn man – freilich zu Unrecht – mit anderen den Tod Agrippas II. erst nach dem Erscheinen der antiquitates ansetzt, und wenn man πολλοί ähnlich wie etwa manchmal πολλάκις als nur zur Bezeichnung etwa einer Drei- oder Vierzahl dienend faßt (man beachte auch die eigene Angabe des Joseph. ant. Iud. XVIII 128, wonach binnen etwa 100 Jahren fast alle Nachkommen des ersten H. gestorben sind). Schließlich stimmt auch das, was der Verfasser der Polemik über sich aussagt, nicht so ganz zu den einschlägigen Angaben des Josephus über seine Person. Auch jener zwar ist Jude aus priesterlichem Geschlecht, aber er hebt nicht wie Josephus (vita § 2ff.) die Verwandtschaft mit den Hasmonäern besonders hervor, sondern rühmt nur, daß sein γένος der ersten der 24 Priesterklassen, aus der auch die Hasmonäer hervorgegangen sind, angehöre, und sieht in dieser Zugehörigkeit eine besondere Auszeichnung (zu dem Sachlichen vgl. etwa Schürer II⁴ 290). Es gibt demnach in dem ganzen Abschnitt nichts, was unbedingt auf Josephus als Verfasser hinwiese, wohl aber vieles, was ihn ausschließt.
Wir haben also das wichtige Resultat, daß uns in ant. XVI 179–187 der wörtliche Auszug aus einer Mittelquelle vorliegt, die als Gegenschrift zu der Darstellung des Nikolaos, aber selbstverständlich unter Verwertung des von ihm Gebotenen, von einem jüdischen Priester in griechischer Sprache verfaßt worden ist, ein Werk, das den ersten H. anscheinend schonungslos, wenn auch nicht direkt gehässig, behandelt (es charakterisiert z. B. das Handeln des Königs als ἐμφανῶς ἄδικα, als ὠμῶς, als παρανομηθέντα, s. § 184f.; vgl. aber auch τὰ πεπραγμένα δικαίως τῷ βασιλεῖ) und das sogar feindselige jüdische Legenden aufgenommen hat (s. bes. § 182). Zu den Hasmonäern, auf deren Geschichte der Anonymus auch eingegangen ist (schon Wachsmuth a. a. O. hat für Josephus’ Ausführungen über die [RE:12] Hasmonäer eine unbekannte jüdische Quelle postuliert), hat der Verfasser dagegen in einem freundlichen Verhältnisse gestanden (§ 187). Sollten Angaben des Josephus über essenische Legenden wie vor allem ant. Iud. XV 372ff., aber auch XVII 346 auf ihn zurückzuführen sein (die erstgenannte Stelle schließt direkt an Ausführungen, die unserem Verfasser zuzuschreiben sind, an [s. S. 64 *], und es findet sich dasselbe Urteil über die Herkunft des H., wie es gerade der Anonymus vertritt – H. ein ἰδιώτης – auch hier; s. S. 15*), Angaben, die eine gewisse Sympathie mit diesen verraten, so würde dieser jüdische Priester der Sekte der Essener freundlich gegenübergestanden haben. Betrachten wir seine Bemerkungen über seine Stellung zu den Nachkommen des H., so ist es sehr wohl möglich, ihn schon in die Zeit bald nach Christi Geburt anzusetzen; in diesem Falle könnte man in dem Verfasser sogar noch einen, wenn auch jüngeren Zeitgenossen des Königs sehen, und man könnte dann sogar sein Werk noch den Primärquellen zurechnen. Wenn man aber βασιλεύειν wörtlich fassen will, was doch das nächstliegende ist, würde man ihn am besten etwa in die 40er Jahre des 1. Jhdts. n. Chr. zu setzen haben. (Sollte man den unorganischen Einschub in die [14] Erzählung des Tempelbaus bei Josephus [beachte auch das Vorhandensein einer Dublette, ant. Iud. XVIII 91ff.] auf unseren Verfasser zurückführen dürfen [ant. Iud. XV 403–409, s. z. B. in § 403 die rühmende Erwähnung der Hasmonäer und in § 409 den dem Anonymus vielleicht eigentümlichen Ausdruck, χαριζόμενος, vgl. S. 13*)], so würde die Zeit der Abfassung erst in dieser Zeit gesichert sein, da in diesem Einschub gerade Ereignisse der 40er Jahre erwähnt werden.) Es scheint, als ob das Werk in Bruchstücken publiziert worden sei. Diese hier eruierte Mittelquelle aus dem jüdischen Lager, der jüdische Anonymus, wie ich ihn nennen mochte [1], ist natürlich gleichzusetzen mit jener schon von anderen (s. z. B. Wachsmuth a. a. O. 445; Schürer I³ 84) angenommenen, dem H. ungünstigen Quelle, die jedoch nur im XV. Buche der antiquitates von Josephus benützt sein sollte und die bisher in keiner Weise näher bestimmt worden ist. Welche Quellen außer Nikolaos der jüdische Anonymus benützt hat, wage ich vorläufig nicht festzustellen; prinzipiell sind selbstverständlich alle primären Quellen als möglich in Betracht zu ziehen, vielleicht besonders Ptolemaios von Askalon.
Die soeben gemachte Beobachtung, daß Josephus aus einer Quelle einen größeren Abschnitt mehr oder weniger wörtlich entnommen hat (über wörtlichen Anschluß an die Quelle s. auch u. die Anm. auf S. 80; ferner ist sehr instruktiv für die Art der Quellenbenutzung des Josephus z. B. ein Vergleich von bell. Iud. I 329 mit ant. Iud. XIV 452, auch der Anfang von ant. Iud. XV 380 [bes. αἱ προειρημέναι πράξεις], wenn man die §§ 365–379 mit ihm vergleicht und berücksichtigt, daß diese eine sachliche Einlage [RE:13] darstellen, s. S. 72 Anm.) – diese Beobachtung scheint mir um so bedeutsamer zu sein, als auch hier ähnlich wie bei den sogenannten Selbstzitaten – die eine Feststellung stützt die andere – von Josephus der Anschein erweckt wird, als ob er selbst zu uns spreche; es heißt also mit demselben Mißtrauen, das wir dem Menschen Josephus gegenüber haben müssen, auch den Schriftsteller und seine Quellenbenützung zu betrachten [2]. Um welche Quellen es sich handelt, ist schon im vorhergehenden zum Teil festgestellt worden. So einmal die Verwertung des Anonymus und hierdurch indirekt des Nikolaos im bellum und in den antiquitates bis zum Beginn des XV. Buches als grundlegende Quelle. Josephus mag ihn in den späteren Büchern der antiquitates
- ↑ Eine Hypothese über den Namen könnte ich bereits bieten, doch scheint es mir richtiger, sie erst nach weiterer Prüfung der Anonymushypothese vorzulegen.
- ↑ Es sei hierbei an das Gegenstück hierzu erinnert, jene Behauptung des Josephus, er habe in den ersten 10 Büchern der antiquitates die heiligen Bücher der Juden wortgetreu wiedergegeben (ant. Iud. I prooem. 17; X 218), während wir in Wahrheit starke Umbiegung und Weiterbildung bei ihm finden. Ich komme also über Josephus etwa zu dem entgegengesetzten Urteil wie v. Wilamowitz Kult. d. Gegenwart I 8³ 245f.
Walter Otto: Herodes. Beiträge zur Geschichte des letzten jüdischen Königshauses. Metzler, Stuttgart 1913, Seite 13. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Herodes.djvu/027&oldid=- (Version vom 1.8.2018)