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Seite:Otto Richter Lehrjahre eines Kopfarbeiters.pdf/106

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pflegen. Die historische Kritik und Methode ließ sich aber in bloßer Erläuterung von Quellenschriften, wie er sie bot, nicht gründlich erlernen, deshalb war ich daneben in Heinrich Wuttkes historisches Seminar eingetreten. Wir zählten dort nur sechs Teilnehmer, darunter ein hochaufgeschossenes Mädchen, die einzige und deshalb vielbestaunte Studentin in der philo­sophischen Fakultät. Sie überragte mich um fast zwei Kopfes­längen, dennoch unterzog ich mich der ritterlichen Pflicht, sie als Beschützer auf dem Heimwege bis an ihre Haustür zu begleiten. Der Mond, der ja nicht wissen konnte, daß uns nur gelehrte Beziehungen verbanden, mag über das ungleiche Pärchen manchesmal gelächelt haben.

Wuttke war eine eigenartige Persönlichkeit. Von der Politik, die er früher eifrig betrieb, hatte er sich mißmutig zurückgezogen. Er war großdeutscher Demokrat und hatte nach der Erschießung Robert Blums als dessen Ersatzmann dem Frankfurter Parlament angehört. Sein Kampf gegen die Vorherrschaft Preußens war nach 1866 gegenstandslos geworden. Aber noch 1875 ließ er in dritter Auflage ein Buch „Die deutschen Zeitschriften und die Entstehung der öffentlichen Meinung“ erscheinen; darin wußte er manches geheime über die gewiß anfechtbare Verwendung des Welfenvermögens, des sogenannten Reptilienfonds, mitzuteilen, in der Hauptsache war es eine Schmähschrift gegen das Preußentum. Ich dachte selbstverständlich ebensowenig wie die andern Teil­nehmer der Seminarübungen daran, mich seiner politischen Richtung anzuschließen, und er versuchte auch nicht, sie uns aufzudrängen. Möglich, daß spätere Beurteiler ihm mehr Gerechtigkeit widerfahren lassen werden als seine im Eifer für Deutschlands Macht und Größe nicht immer duldsamen Zeitgenossen; wenigstens wird vielleicht seine großdeutsche Gesinnung, für die er zum Haß der Gegner auch noch den üblichen „Dank vom Hause Habsburg“ erntete, künftig nicht mehr so scharf verurteilt werden. Das Äußere Wuttkes

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Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 92. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/106&oldid=- (Version vom 7.6.2024)