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Lehrjahre eines Kopfarbeiters

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Textdaten
Autor: Otto Richter
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Titel: Lehrjahre eines Kopfarbeiters
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Erscheinungsdatum: 1925
Verlag: Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung
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Erscheinungsort: Dresden
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[Einband]
Lehrjahre eines
Kopfarbeiters




Jugenderinnerungen von
Prof. Dr. Otto Richter

[-] [-] [-]

[Titel]
Jugenderinnerungen
von Prof. Dr. Otto Richter

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[Bild]

Prof. Dr. Otto Richter
(Nach Radierung von Prof. L. Otto)

[2.Titel]
Lehrjahre eines Kopfarbeiters

Jugenderinnerungen von Prof. Dr. Otto Richter


Aus seinem Nachlaß herausgegeben

von

Dr. Artur Brabant


Mit 9 Bildnissen




Dresden

Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha v. Baensch Stiftung

[-]

[5]
Geleitwort.

In Tagen schwerer Not des Vaterlandes schrieb ich die „Lebensfreuden eines Arbeiterkindes“ nieder, um mich durch Versenkung in eine schönere Vergangenheit ein wenig aufzuheitern. Rechnete doch schon der weltweise Bacon die Er­innerungen aus der Kindheit unter die gesunden Arzneimittel. Da es nicht ausgeschlossen war, daß das Schriftchen auch andern anspruchslosen Leuten einige vergnügte Stunden be­reiten könnte, ließ ich es in Druck erscheinen. Ich dachte, die geehrten Leser würden dann genug von mir haben. Es ist mir aber vielfach von nachsichtigen Freunden und liebenswürdigen Gönnerinnen, ja sogar von grimmigen Kritikern die Auf­forderung zuteil geworden, meine „Denkwürdigkeiten“ fortzusetzen. Ich weiß dies als Kundgebung wohlwollender Ge­sinnung zu schätzen und will den geäußerten Wünschen, trotz mancher Bedenken, gern entsprechen. Doch muß ich mir bei den jetzigen Papier- und Druckpreisen Beschränkung auf­erlegen: wenn ich meinen Lebensfaden zu lang ausspinne, ist zu befürchten, daß der Herr Verleger sich die Schere der Atropos holen läßt. So will ich nur noch mein Leben und Streben als Schüler und Student schildern. Das bringt mir aufs neue heitere Stunden, denn ich bin so glücklich, auch diesen Zeitabschnitt ganz unter dem Gesichtspunkt des Reichtums an Lebensfreuden betrachten zu können. Zur notwendigen Kürze wird es viel beitragen, wenn ich so wenig als möglich von meinen schwachen Seiten rede, sie werden ohnehin deutlich genug aus dem fadenscheinigen Mäntelchen des Eigenlobs hervorschimmern [6] wie einst die verwundbare Ferse des edlen Achilleus aus seinem löcherigen Heldenstrumpf. Ich bin weit davon entfernt, meine alltäglichen Erfahrungen als Wegweiser und meine harm­losen Geständnisse als Warnungstafel aufrichten zu wollen. Sollte aber der oder jener junge Mann Lust haben, ein son­niges Stück meiner Lebensbahn in der Erinnerung mit mir zu durchwandern, so heiße ich ihn willkommen und hoffe unentwegt sein Zutrauen zu gewinnen. Und von den Alten wird mir gewiß mancher gern Gesellschaft leisten, denn sie plaudern alle von nichts lieber als von fröhlicher Jugendzeit.

Geschrieben zu Dresden, Ludwig-Richter-Straße 31, in meinem siebzigsten Lenze.

Otto Richter. 



Im Nachlasse Prof. Dr. Otto Richters, des um die Dresdner Stadtgeschichte hochverdienten Gelehrten und Rats­archivars, fand sich diese druckfertige Handschrift vor. Er hatte bestimmt, daß ich sie herausgeben sollte, falls es ihm selbst nicht mehr möglich wäre. So lege ich sie denn unver­ändert vor. Ich weiß, seine vielen Freunde und Verehrer werden das Buch in dankbarem Erinnern lesen; allen aber, die es zur Hand bekommen, wird die bescheidene, heitere Lebensfreude dieses Kopfarbeiters eine Erquickung sein.

Dresden, im Christmond 1925.

Oberstaatsarchivar Dr. Artur Brabant. 
[Inhalt]
Inhalt.
Seite
Geleitwort 5
Aus der Schule geplaudert 9
Tisch- und Bettgeheimnisse 20
Äußere und innere Welt 25
Auf dem Schulwege 31
Große und kleine Erlebnisse 40
Hinaus in die Ferne 48
An den Brüsten der Wissenschaft 55
Unter der blauen Mütze 62
Ein behagliches Dasein 79
In gelehrter Gesellschaft 89
Der Doktorhut grüßt 98
Glücklich am Ziele 105

[-]

[9]
Aus der Schule geplaudert.

Thalatta! thalatta! riefen freudetrunken die zehntausend Griechen Xenophons, als sie auf dem Rückzuge aus Persien, den sie sich durch Wüsten und Gebirge hindurch erkämpfen mußten, in der Ferne das schimmernde Meer erblickten. Der Führer des Heeres berichtete es in seinem Generalstabs­werke, mit dessen Sprache freilich noch heute gar mancher tapfere deutsche Jüngling in heißem Kampfe liegt. Ich kann aus meinem Leben von einem ähnlichen Freudenrausch er­zählen, ohne leugnen zu wollen, daß zwischen einem gepanzerten Hopliten mit der Lanze und einem kleinen Advokatenschreiber mit der Gänsefeder gewisse Unterschiede bestehen und ebenso der Abstand zwischen dem Kaukasus und den Bergen um Meißen herum beträchtlich ist. Wasser! Wasser! frohlockte es auch in mir, als ich nach entsagungsvollen Jahren der hirnvertrocknenden Schreibstubenluft in der Rosengasse entrann und draußen die blinkenden Bäche des Wissens rieseln sah, an denen ich mich nun nach Herzenslust zu laben gedachte. An der Quelle der heimischen Nymphe Afra freilich durfte ich den erquickenden Trank nicht schöpfen, in ihren heiligen Hain wurden nur grie­chisch betende Verehrer eingelassen. Ich mit meiner bloß etwas Latein stammelnden Zunge mußte weiterziehen, hinauf zur großen Flußgöttin Dresda, bei der die wissensdurstige Jugend aus allen Ländern und Völkern zusammenströmte. Dort hoffte ich später auch noch die Sprache Xenophons ver­stehen und die Erlebnisse seiner Tapferen genauer kennenzulernen. Mich mit ihnen zu befreunden, mußte mir um so leichter [10] fallen, als ich schon von Kind auf ein wenig an spartanisches Leben gewöhnt war.

Ob der Zug ins Reich der Wissenschaft mir zum Heile gereichen würde, wer konnte es sagen? Die Eltern hatten gegen das kostspielige Unternehmen große Bedenken und hielten es für gewagt, aus den gewohnten ebenen Gleisen auszubrechen und hoch hinaus zu wollen. Ich aber vertraute auf mein gutes Glück und die treue Fürsorge meines Bruders August, der sich opferbereit meiner annahm. Frohen Herzens rüstetete ich mich zur Reise. Eine Kiste mit Vorlegeschloß, wohl aus der Hinterlassenschaft eines Jahrmarkthändlers her­rührend, war dazu ausersehen, meine Habseligkeiten aufzunehmen. Wirkte sie auch nicht gerade vornehm, so war doch ihr stämmiges Aussehen geeignet, einen reicheren Inhalt an Kleidern, Wäsche und Schuhwerk vorzutäuschen, als die sorgende Mutter ihr anzuvertrauen hatte. Den meisten Platz darin beanspruchten meine geliebten Bücher, neben der von herrlichen Regeln und Ausnahmen strotzenden lateinischen Grammatik von Middendorf und Grüter und der nicht minder reichhaltigen französischen von Ploetz, ausgewählte Werke von Lessing, Goethe, Schiller und Kleist und als besonderer Liebling die Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten Siebenkäs von meinem – damals – gefühlsverwandten Namensvetter Jean Paul. Mein Herz war somit in der Kiste auf dem Planwagen des Botenfuhrmannes, der die kostbare Last in gemächlich knar­render Fahrt auf der großen Landstraße, vorbei an den mit reicher Ernte gesegneten Weingeländen der Spaarberge und des väterlichen Geburtsortes Kötzschenbroda, nach Dresden bringen sollte. Seinem wachsamen weißen Spitz überließ ich die Sorge für die Sicherheit meiner Habe, mich trieb die Ungeduld zur Benutzung der schnelleren, wenn auch nicht so gefahrlosen Eisenbahn. Noch ein andres bedeutendes Ver­kehrsmittel nahm ich alsbald in Anspruch: den Tragkorb der [11] Botenfrau, der seinerseits als Lastträger den billig arbeitenden Elbdampfer benutzte. Der bejahrten, stets munteren Frau übertrug ich die Hin- und Herbeförderung der Wäsche, wobei sie mir jedesmal einen erfrischenden Hauch von Heimatluft ins Haus brachte. Denn die Mutter behielt meine Wäsche der eigenen sachverständigen Behandlung vor, um von dem ihr entrückten Sohn immer einen wesentlichen Bestandteil unter den Händen zu haben und zugleich sicher zu sein, daß er nicht mit schlecht geplättetem Vorhemdchen den guten Ruf der Meißner Hausfrauen in der Hauptstadt gefährde. So sog ich aus dem Duft von Seife und Soda die beglückende Gewißheit einer unauflöslichen Verbindung mit dem Elternhause. Ich selbst hoffte in meinen Sonntagssachen bei den Dresdnern einen vorteilhaften Eindruck zu machen. „Reine Wäsche und ein Wort Latein zieret den jungen Mann,“ sagte der alte Magister Rätel.

Die Herrlichkeiten der Stadt kümmerten mich zunächst nur wenig, mein ganzes Sinnen war auf das Schulhaus in der Königstraße gerichtet, an dessen Eingange die steinernen Gestalten Lessings und Humboldts strenge Wacht hielten. Dort sollte ich am 4. Oktober 1869 zeigen, was ich konnte. Die Neustädter Realschule erster Ordnung war damals in der Umwandlung zu dem Realgymnasium begriffen, das der Stadtrat später auf meinen Vorschlag nach der benachbarten Kirche Dreikönigschule benannt hat. Ich hatte zu Hause gesagt, ich würde mich für die Tertia melden, hoffte im stillen aber in die Sekunda aufgenommen zu werden. Als ich in das Prüfungszimmer unter die musternden Augen der Lehrer trat, kam ich mir vor wie ein junges Pferd, dem die Käufer das Maul aufsperren, um an den Zähnen seine Jahre abzulesen. Bei mir konnten sie das Alter aus dem bärtigen Gesicht leicht erraten, aber um meine Weisheit zu ergründen, mußten sie mir allerdings auf den Zahn fühlen. Das vermochte freilich noch keiner zu sagen, ob ich mich zu einem flotten Renner oder [12] einem bloßen Lastgaul auswachsen würde. Auf dem sprachlichen Gebiete bestand ich die Probe glänzend, der Haken lag bei der Mathematik. Die Prüfung in den Gleichungen zweiten Grades ward für mich zu einem Mißerfolg ersten Grades. Der wohlwollende Rektor Niemeyer hätte es dem siebzehn­jährigen Jüngling gern erspart, sich unter die vierzehnjährigen Knaben eingereiht zu sehen, aber der gestrenge Mathematiker glaubte nicht, daß sich die von mir kühn übersprungenen Lücken meines Selbstunterrichts so leicht würden ausfüllen lassen. Da saß ich nun am nächsten Tage als Letzter auf der hintersten Bank der Tertia. Bald gesellte sich mir ein Allerletzter hinzu, der von einer Privatschule kam, Georg von Zobel. Er stand an Alter und auch an Bartwuchs kaum hinter mir zurück, und auf Grund dieser Ähnlichkeit wurden wir gute Freunde. Seine Begabung lag auf anderm Gebiete als die meinige, sonst hätte er es später nicht bis zum Generalleutnant der Artillerie gebracht. Für längeren Aufenthalt erschien mir aber die Stelle, wo mein Schifflein gelandet war, nicht geeignet, ich beschloß deshalb frischen Dampf zu machen und gab der Maschine die Weisung: mit ganzer Kraft vorwärts!

Es war vielleicht ein Glück für mich, daß ich erst im vor­geschrittenen Jünglingsalter auf die Schule kam, denn die gereiftere Einsicht lehrte mich die Schuljahre gut ausnützen. Der Unterricht in der Tertia bot mir keine Schwierigkeiten und doch in manchen Fächern fesselnde Anregung, namentlich bei dem Geschichts- und Sprachlehrer Dr. Petzoldt, einem redebegabten, feurigen Vaterlandsfreunde. In Augenblicken der Begeisterung oder des Zornes schmetterte die helle Stimme des hochgewachsenen Germanen wie eine Kriegstrompete über unsere Köpfe hin und weckte alle Träumer zu gespanntem Aufmerken. – Ich war in vielen Dingen meinen Mitschülern voraus. Wir hatten als deutschen Aufsatz einmal die schrift­liche Bestellung eines Schreibepultes abzufassen. Meine Angaben über den Gegenstand waren so anschaulich und die [13] Lieferungsbedingungen so geschäftsgewandt ausgefallen, daß der Lehrer den Brief der Klasse als Musterstück vorlas. Auch in der Geschichte machte ich mir bald eine Stellung. Nachdem ich einmal über das Maß der verlangten Kenntnisse hinaus auf die Frage nach hervorragenden Machthabern im mittel­alterlichen Frankreich die Grafen von Toulouse zu nennen gewußt hatte, war mein Ansehen als Historiker fest begründet. Diese Fälle sind mir in der Erinnerung geblieben, weil ich ihnen offenbar die andauernd rücksichtsvolle Behandlung von seiten der Lehrer mit zu verdanken hatte.

Nach einem halben Jahre saß ich in der Sekunda schon auf einer der vorderen Bänke, wo die wohltuende Wärme, die von einem tüchtigen Lehrer wie von einem gutheizenden Ofen ausstrahlt, kräftiger zu spüren war. Im nächsten Jahre rückte ich zum Klassenersten der Unterprima auf und behauptete mich auf diesem ein gutes Sitzfleisch erfordernden Platze auch in der Oberprima, immer neben mir als Zweiten einen Freund, der später zu unsern ersten Berg- und Hüttentechnikern gehörte: Kurt Sorge. Er hat mir als treuer Kamerad bei Gefahr schlagender Wetter am mathematischen Arbeitsort gar man­chesmal rechtzeitig aus der Grube geholfen.

Der Unterricht in den oberen Klassen ließ bei mir viele Wünsche offen. Gerade einige von den Fächern, denen ich den stärksten Lerneifer entgegenbrachte, waren mit den schwächsten Lehrkräften besetzt. Wenn etwas die Echtheit meiner Neigung für die Geschichtswissenschaft beweisen konnte, so war es die Erfahrung, daß ein zweijähriger, trockener und trostlos lang­weiliger Geschichtsunterricht sie nicht zu ertöten vermochte. Der theologisch gebildete Konrektor Wittich, der ihn erteilte, war ja ein sehr gewissenhafter und biederer, auch einem Späßchen nicht abgeneigter alter Herr. Soweit aber sein Vortrag etwas von innerer Bewegung spüren ließ, lebte sie sich lediglich in einem unausgesetzten Drehen der Schnupftabaksdose auf dem Katheder aus. Was half einem da alle Begeisterung für die [14] ruhmreiche deutsche Vergangenheit! Statt die Geister ihrer schlummernden Helden in den Seelen der Jugend zu neuem Leben zu erwecken, schien er es darauf abzusehen, sie nur noch tiefer einzuschläfern; es fehlte bloß, daß man es vom Kyffhäuser her schnarchen hörte. – Auch die Erdkunde wurde von einem diese Wissenschaft nicht frei beherrschenden Lehrer vorgetragen. Nach seiner Art des Unterrichts konnte man denken, es komme nicht darauf an, eine lebendige Vorstellung von der Welt zu erhalten, sondern nur zu erfahren, was in seinem Lehrbuche stand. Der kleine, lahme, etwas grillige Buchgeograph sprach, hinter dem Himmelsglobus hervorlugend, von dem grenzenlosen Wunder des Weltalls in demselben gleichgültig schnarrenden Tone, wie wenn er mit seinem Krück­stocke auf der Wandkarte den thüringischen Zwergstaaten ihre Grenzen anwies.

Der gemütliche Lehrer des Lateinischen und Französischen war ebenfalls ein ehemaliger Theolog und nebenbei ein Meister im Anekdotenerzählen. Er schien bisweilen den lockenden Morgenruf der Pflicht Heus, heus, surge Bruno! tempus est eundi in scholam! überhört zu haben und tauchte dann sehr spät in der Klasse auf. In diesem Falle wußten wir schon, wie der Hase lief: wir durften für uns arbeiten, während er sein gerötetes Haupt gedankenschwer auf das genußfreudige Bäuchlein herabsinken ließ. Der für die Gaben der Muße sehr empfängliche Jugendbildner konnte im Lateinischen nur noch mit verblaßter Erinnerung ans Gymnasium aufwarten und liebte es, bei der Übersetzung schwieriger Stellen, auf die er selbst meist nicht vorbereitet war, zur Sicherheit erst die Ansicht des Primus einzuholen, ehe er entschied, was der alte Römer gemeint habe. Ich hatte mir schließlich angewöhnt, bei falschen Lösungen mit dem Kopfe zu schütteln, bei richtigen zu nicken, was der Mann auf dem Katheder wohl beobachtete. Es machte mir wie meinen Banknachbarn Spaß, mich so als lateinisches Wettermännchen benutzt zu sehen, das sich [15] freilich wie jeder Prophet auch manchmal irrte. Eine Glanz­nummer seiner Lateinwissenschaft, auf die er sich viel zugute tat, bildete die gewiß schwerwiegende, aber keineswegs neue Entdeckung, daß in einem Hexameter Ovids an Stelle einer kurzen Silbe fälschlich eine lange stehe. Auf einen Hauch vom Geiste des Altertums warteten wir vergebens.

Besser gesattelt war unser geschätzter Romanist für den Unterricht im Französischen, nur daß es ihm an der nötigen Gewandtheit im mündlichen Gebrauch der fremden Sprache fehlte. So ging es aber den meisten Lehrern. Als einmal im Kriegsjahre 1870 einige gefangene Franzosen im Vorbei­gehen am Schulhause aus der Aufschrift Realschule ge­schlossen hatten, daß man ihnen da drinnen in ihrer Sprache Auskünfte erteilen könne, war der gute Rektor, zu dem sie kamen, in böse Bedrängnis geraten. Seiner Sache durchaus sicher war dagegen der Lehrer des Englischen Dr. Peschel, derselbe, der sich später als Begründer des Körnermuseums verdient machte. Er sammelte schon damals Andenken an Theodor Körner und lud mich gelegentlich zu deren Besichti­gung in seine Wohnung im Großen Garten ein. Die Reiter­pistole des Freiheitsdichters in der Hand haltend, empfand ich da die ersten Schauer der Heldenverehrung.

Das Deutsche wurde vom Rektor Niemeyer anregend und in wissenschaftlichem Geiste behandelt. Dieser würdige Gelehrte war vielleicht kein kräftig durchgreifender Schul­leiter und keine das Ganze anfeuernde Persönlichkeit, aber in seinem Fache ein vorzüglicher Lehrer. Immer erschien er gründlich vorbereitet und mit Ausgaben der zu besprechenden Dichtungen ausgerüstet, von denen er uns wenigstens den Einband vorzeigte. Dabei zog er durch ein lebhaftes Gebärdenspiel an, manchmal in erheiterndem Gegensatze zu dem bitterernsten Antlitz, über dessen scharfgeschnittene, fast an Dante erinnernde Züge nur selten ein Lächeln glitt. Wie anschaulich verstand er beim Vortrag von Gedichten Walthers [16] von der Vogelweide die Worte zu machen: Ich saz uf eime steine und dahte bein mit beine usw., indem er feierlich langsam die Beine übereinanderschlug und das ausdrucksvolle Gesicht mit dem glattrasierten Kinn auf die Hand stützte! Meine hingebende Anteilnahme an dem deutschen Unterricht belohnte er, abgesehen von einer ungewöhnlichen, mich hoch ehrenden Sonntagseinladung zu Kalbsbraten und Kartoffelsalat, mit einer Buchprämie in Gestalt des Nibelungenliedes in der Ursprache, das mit seinen auf schweren Füßen wuchtig einher­schreitenden Versen den Sinn für deutsches Heldentum mächtig in mir anregte. Das bevorzugte Vorbild für die Pflege des Stils war ihm Lessing, der Schutzheilige der Schule, der mir dadurch besonders nahe gebracht wurde. Des Rektors Er­läuterung der Emilia Galotti wußte uns Form, Personen und Handlung des Dramas ungleich lebendiger machen, als dies der französische und englische Unterricht beim Lesen von Racines Athalie und Shakespeares Julius Cäsar vermochte.

Vortrefflich war die Mathematik und Physik durch den ernsten schwarzbärtigen Dr. Bothe vertreten, der ungemein gewandt vorzutragen, die schwierigsten Aufgaben spielend zu lösen und aus freier Hand tadellose Kreise auf der Wandtafel zu ziehen verstand. Seine Tüchtigkeit und Gerechtigkeit sicherte ihm unsere uneingeschränkte Achtung, aber sein wort­karges Wesen ließ ihn nicht recht beliebt werden. Die strengen Anforderungen, die er stellte, sind mir so auf die Knochen gegangen, daß ich mich noch heute zuweilen im Traume ver­zweifelt mit der Lösung algebraischer Rätsel herumplage. Es herrschte unter unserem Dutzend Primanern kein Klassen­bewußtsein und keine Kameradschaft auf Leben und Tod, weshalb auch weder von Schülerverbindungen noch von Klassenstreichen zu berichten ist. Nur zu zweien oder dreien waren wir freundschaftlich verbunden, einige auch ehrlich verfeindet, so daß bisweilen in der Zwischenstunde eine fröhliche Rauferei für Unterhaltung sorgte. Doch gegenüber der mathematischen

[Bild]

August Richter

 

Dr. Otto Richter
im 25. Lebensjahre

[-] [17] Feuersgefahr bestand getreue Nachbarschaft, und jeder war bereit, dem andern mit dem Löscheimer zum Schutze des ge­fährdeten Strohdaches beizuspringen. – Beim Feldmessen, das unter Bothes Leitung im Herbst auf Stoppelfeldern an der Großenhainer und an der Radeberger Straße geübt wurde, hinderte mich meine Kurzsichtigkeit, auch nur einen so kleinen Erdteil wie Europa zu überblicken; ich habe daher leider nichts zur Förderung der europäischen Gradmessung beitragen können. Das Glas Bier, das wir nach der Arbeit zusammen mit dem Lehrer einnahmen, ließ ich mir trotzdem als wohlverdient schmecken. – In der Sekunda und Unterprima unterrichtete noch ein anderer, jüngerer Mathematiker. Er war gewiß auch nicht untüchtig, stand aber, wenn er sich an der Wandtafel in einer algebraischen Aufgabe verwickelt hatte, den Angstschweiß von der Stirn wischend, so hilflos vor der hohnlachenden Klasse, daß es mir jedesmal in der Seele wehtat. Das Bild dieses ängstlichen kleinen Lehrers, der den großen Schuljungen weder durch geistige Schlag­fertigkeit noch durch körperliche Überlegenheit Achtung abzunötigen vermochte, hat mir später, als es sich für mich um die Berufswahl handelte, warnend vor Augen gestanden.

Die beschreibenden Naturwissenschaften lehrte der eifrige, aber eckige und spottsüchtige Engelhardt, der nicht akademisch gebildet war, jedoch als Forscher in der Versteinerungskunde einen guten Namen besaß. Es war etwas Ungewöhnliches, daß der seines Faches stets sichere Naturwissenschaftler einmal bekennen mußte, nicht zu wissen, was der Name Pläner be­deute, denn die Richtigkeit der üblichen Herleitung vom lateinischen planus (eben, flach) sei doch sehr zweifelhaft. Das beschäftigte mich immer, wenn ich bei Spaziergängen in der westlichen Umgegend der Stadt auf das dort häufig zutage tretende flachgelagerte Plänergestein stieß. Da machte es mir zehn Jahre nachher Vergnügen, aus alten Stadtrechnungen nachweisen zu können, daß dieser Kalk im [18] Mittelalter nach dem benachbarten Dorfe Plauen als Plauener Stein bezeichnet worden war, ein Name, der in späteren Ur­kunden als Plaunerstein, Planerstein und schließlich als Plänerstein erschien und in der letzten Form allgemeine Ver­breitung und wissenschaftliche Geltung erlangt hatte. Mit diesem Nachweise habe ich dem trefflichen Lehrer, in dessen Wissenschaft ich es nur zu mäßigen Kenntnissen gebracht, auf seinem eigensten Gebiete doch noch eine Freude gemacht. Ich übergab die kleine Entdeckung den Jahresberichten der Gesellschaft Isis zur Veröffentlichung, und von da ging sie in Grimms Wörterbuch über. So ward ich, wenn auch nur für eine Minute, Mitarbeiter an dem Werke, das mich einst als jungen Advokatenschreiber den ersten Blick in die reichen Werkstätten der Wissenschaft hatte tun lassen. In angenehmer Erinnerung habe ich Engelhardts geologische und botanische Ausflüge behalten, sie waren mir mehr als bloße Unterbrechungen der sitzenden Lebensweise. Während beim Klassenunterricht viele Stücke als bloße Namen aus dem Buche der Schöpfung in der Luft schwebten, oder als leblose Trockenkörper aus den Totenkammern der Naturaliensammlung von Bank zu Bank wanderten, hatten sie draußen in ihrer natürlichen Umwelt Gestalt und Seele und schlossen sich zu eindrucksvollen Bildern lebendiger Wirklichkeit zusammen.

Für das Fach der Chemie hatten wir einen besonderen Lehrer. Auch die von diesem veranstalteten Besichtigungen großer Fabrikanlagen boten viel Belehrendes. Bei einem Besuche der Muldener Hütten sahen wir das grün schillernde Arsenik, dessen Genuß bekanntlich schön machen soll, ver­führerisch in ganzen Haufen aufgeschichtet liegen. Einige von der Natur nicht verschwenderisch bedachte Kameraden steckten sich ein Stück davon ein, ich habe aber nachher nicht bemerkt, daß sie schöner an Körper, geschweige denn an Geist geworden wären. Der Jünger Kolbes war ein Mann von jugendfreundlichem Sinn, aber fragwürdigem wissenschaftlichen Streben; [19] der Durst nach Erkenntnis erwies sich bei ihm nicht als der­jenige, der sich am unwiderstehlichsten geltend machte. Als bei seinem Vortrage der damals noch neuen Atomlehre einer der Schüler bemerkte, die Sache sei ihm nicht verständlich, gab er lachend zu, daß er sie selber nicht verstehe! Wieder­holt gelang es einigen dreisten Burschen, ihn von der Not­wendigkeit zu überzeugen, statt des Unterrichts die Auffüllung des Sauerstoffvorrats zu betreiben. Während dann der Braunstein in der Retorte dampfte, erledigten wir die rück­ständigen Schularbeiten und er den versäumten Nachtschlaf. Das waren die einzigen Stunden, wo im Chemiezimmer tadellose Ruhe herrschte. Unter solchen erschwerenden Um­ständen waren seine Lehrerfolge nur bescheiden. Trotzdem gab er mir die Zensur I, wohl weil er sie als die für den Primus passendste ansah. Oder sollte mir vielleicht im Meißner Porzellanlaboratorium etwas von der Geheimkunst Böttgers angeflogen sein?

Bei Prüfungen und Festfeiern ist es mir mehr als einmal vergönnt gewesen, auf dem hohen Rednerpult der Aula in deutschem, französischem oder englischem Vortrag mein Lichtstümpfchen leuchten zu lassen. Es war mir ein erhebendes Gefühl, vor vielen Mitmenschen über irgendeinen wichtigen Fall der Weltgeschichte von oben herab urteilen zu können. Ohne Herzklopfen ging es bei diesem ersten Auftreten in zahlreicher Versammlung natürlich nicht ab, es war aber doch bei weitem nicht so stark, wie dazumal im engsten Kreise bei meiner Liebeserklärung an die schöne Mit­schülerin in der Meißner Selekta. Der Saal erschien nicht groß und auch für Redner, die an Lampenfieber litten, bei­nahe anheimelnd. Seit der Übersiedelung der Dreikönig­schule in ein neues Gebäude dient er als Trauzimmer des Standesamts; da mag manchem angehenden Eheherrn vor den ihn erwartenden Prüfungen bänglicher zumute sein als je einem Schülerherzen.

[20]
Tisch- und Bettgeheimnisse.

Es war mir nicht schwer gefallen, mich in Dresden einzugewöhnen. Meine Wohnungs- und Ernährungsverhältnisse hatten sich hier auch nicht üppiger gestaltet als daheim bei den Eltern. Auf ein Zeitungsangebot hin war ich zu einer Lehrerswitwe auf der Alaungasse gezogen, einer sehr gefühl­vollen und zartbesaiteten Frau, die viel auf guten Ton hielt: für ein freies, naturwüchsiges Wort konnte man bei ihr leicht einen wahrhaft vernichtenden Blick ernten. Die Bedauerns­werte befand sich in ewiger Geldklemme: ihr einziger, von ihr sehr bewunderter Sohn, ein junger Eisenbahningenieur, lag ihr immer schwer auf der Tasche und kränkte sie obendrein oft bei Tische durch Vorwürfe über die dürftige Kost. Er fühlte sich berufen, an der Erziehung der mütterlichen Pfleglinge tatkräftig mitzuwirken. Mir hat er dabei wenigstens insofern genützt, als er manche Erfahrungen seines Lebenswandels mir zugute kommen ließ und sich somit unbewußt als warnendes Beispiel darbot. Wenn der selbstgefällige Herr uns den rechten Begriff von seiner angesehenen Stellung geben wollte, ließ er sich Sonntag vormittags frisieren und den Schnurrbart wichsen, zog seinen besten Dienstrock nebst weißen Handschuhen an und ging, von den verwundert aus ihren Häuschen heraus­tretenden Bahnwärtern ehrerbietig gegrüßt, mit uns auf den Bahndämmen spazieren, offenbar in der Meinung, daß wir das sonst jedermann streng verbotene Stolpern über die Schwellen als hohe Vergünstigung zu schätzen wissen würden.

Die Wohnung teilte mit mir ein Schulkamerad aus der nächsthöheren Klasse, Richard Hänsel, ein strebsamer und liebenswerter Mensch, der mir sehr bald Herzensfreund wurde. Nach dem frühen Tode seines Vaters, eines Postverwalters in Dohna, hatte er das Glück, die Mittel zu seiner Weiter­bildung von meinem Bruder August vorgestreckt zu erhalten, [21] sonst aber war ihm, außer einer treuen Schwester, wenig Genuß des Schicksals beschieden. Während meines letzten Schuljahres diente er als Einjähriger bei den Leibgrenadieren. Seine zarte Natur zeigte sich den Anstrengungen des Waffenhandwerks nicht gewachsen, trotzdem wurde er bei der Unerbittlichkeit des militärischen Zwanges nicht eher entlassen, als bis er schweren Schaden an der Gesundheit genommen hatte. Er litt an stets zunehmender Lähmung der Glieder und ist nach leidensvollen Jahrzehnten als Ingenieur in Leipzig gestorben.

Zunächst aber hing uns beiden der Himmel voller Geigen. Das Fenster unserer Schlafkammer eröffnete die Aussicht auf eine Gärtnerei. Hier standen wir an klaren Herbstabenden, schwelgten in der Schönheit der Sternenwelt und schwärmten in Zukunftshoffnungen auf eine Milchstraße des Lebens. Eine junge Gärtnerin suchte unsere Aufmerksamkeit durch lockenden Gesang auf sich zu lenken, aber wir ließen uns auf solche nicht unbedingt zu unserer Ausbildung gehörige Bezie­hungen nicht ein, zumal da wir nicht feststellen konnten, wem von uns beiden die Sirenenklänge galten. Während des Winters verschlossen wir unsre Gefühle abgekühlt im Innern und schliefen nach Erledigung der Schularbeiten den Schlaf der Gerechten. Aber als der Frühling kam – wehe! Da ent­faltete sich nachts in der Kammer eine unheimliche Geschäftig­keit. Kleine braune Teufelchen aus der verrufenen Familie cimex lectularius tauchten erst vereinzelt, dann in immer wachsender Zahl aus Türpfosten und Ritzen auf, kletterten an den Wänden empor, ließen sich in kühnem Schwunge von der Decke auf die Betten herabfallen, krochen blutsaugerisch zu uns in die Kissen und schufen uns in lauen Nächten die Qualen der Hölle. Frühmorgens sah man sie wie eine Flotte brauner Ruderboote im Waschbecken herumgondeln und selbst in der Wohnstube hielten sie auf den Sophakissen ihre Turnübungen ab, um unversehens auf den Menschen überzuspringen. [22] Das vermochten auch so gutherzige Jünglinge wie wir, die jedem Tierchen ein anständiges Vergnügen gönnten, auf die Dauer nicht zu ertragen. Wir brachten unsre zer­stochenen Märtyrerleiber vor die Besitzerin des teuflischen Insektariums und forderten dessen Räumung. Aber sie konnte sich, wohl aus alter Vorliebe – ihr seliger Vater war ein bekannter Entomolog gewesen – nicht dazu entschließen. Was kümmerte die fromme Frau auch Leib und Blut, ihr war es um das Heil unsrer Seele zu tun.

Da blieb uns nichts andres übrig als die Flucht. Ein älterer Schulkamerad lud mich ein, zu ihm nach der Friedrich­stadt zu ziehen, jenem bevorzugten Stadtteile, wo Ludwig Richters Wiege gestanden, aber auch der Bilderhändler Rehhahn und mancher schwarzgefärbte Wilde von der Vogel­wiese seine Heimat hatte. Er bewohnte auf der Weißeritz­straße bei einer Nadelarbeitslehrerin ein Stübchen hinten heraus. In diesem niedlichen, durch ein eisernes Kanonenöfchen heizbaren Gelaß hatten außer dem Bett gerade noch ein mäßig großer Tisch am Fenster und zwei Stühle Platz. Der Kamerad wollte mir bereitwillig den einen Stuhl nebst einer Tischecke und etwas Anteil an der Beleuchtung abtreten, während ich mein Bett oben in einer Dachkammer aufschlagen sollte, wo erwünschte Gelegenheit war, sich beizeiten an eine selbständige hohe Stellung zu gewöhnen. Die Wirtin ging verständnisvoll auf unsre Pläne ein, die nicht so sehr auf Wohlleben als auf Billigkeit abzielten, und so hielt ich, befreit von aller Qual, einen frohen Einzug in das neue Heim. Mein Stubengenosse – wenn ich bei meinem kleinen Anteil an seinem Stübchen einen so hochtrabenden Namen gebrauchen darf – war gut­mütig und verträglich, hatte aber viel Anlage zum Sonder­ling, so daß es trotz engster Berührung zu einem Freundschafts­bunde zwischen uns nicht kommen konnte. Er hat es später bis zum Postdirektor gebracht, aber schließlich im Irrsinn ein trauriges Ende gefunden.

[23] Unsre Kammer mit ihrer Aussicht in den schmalen dunklen Hof und auf eine schwarze Giebelwand, die auf Auge und Sinn wenig ablenkende Reize ausübte, war schon zeitig am Morgen eine Stätte des Fleißes, und wenn abends die nerven­stärkenden Hammerschläge in der daruntergelegenen Schlosserei schwiegen, kam die Arbeit aufs neue in Fluß und dauerte oft bis Mitternacht. Den köstlichen Morgentrank bereitete uns die Wirtin, ein wohlschmeckendes Abendessen, meist Brot, Butter und Käse, bisweilen umflossen vom Saft einer sauren Gurke, besorgten wir uns selbst. Mein Nebenmann, ein wahrer Ausbund notgedrungener Sparsamkeit, begnügte sich mittags oft mit Kaffee und Butterbrot, ich nahm meine Mahlzeit anspruchsvoll unter Arbeitern und Handwerksgesellen in einer Wirtschaft auf der Kleinen Brüdergasse ein. Von einer Schüssel Schweinsknochen mit Klößen oder ge­bratenem Kuheuter mit Kartoffelsalat und ähnlichen leckeren Gerichten, wie sie dort, nicht weit entfernt von der königlichen Tafel, für 50 Pfennige aufgetischt wurden, konnte man sich tüchtig sättigen; die gesunde Eßlust der Tischgenossen ermunterte mich auch bei minder lukullischen Speisen, wie Mohrrüben oder „Gamaschenknöpfen“, zu tapferem Einhauen. Hier war ich auf dem besten Wege zu einem gemäßigten Genußmenschen­tum. Als der genügsame Kamerad nach zwei Jahren die Schule verließ, siedelte ich in seine Bettstelle über. Aus der luftigen Bodenkammer, wo der Schneesturm mitunter zwischen den Dachziegeln hindurch ein kühlendes weißes Pulver ausstreute und der Frost das Waschbecken in eine kleine Schlitt­schuhbahn für Mäuse verwandelte, brachte ich einen hart­näckigen Rheumatismus mit, der mich fortan hinderte, am Turn­unterricht teilzunehmen. Mir war das gar nicht unlieb, denn ich glaubte törichterweise die Zeit besser anwenden zu können und lebte ohnehin mit dem Turnlehrer, der durch seine Eitelkeit die meine stark verletzt hatte, auf gespanntem Fuße. Nach vergeblicher Anwendung von Dampfbädern brachte erst ein anhaltend heißer [24] Sommer das Übel – nämlich den Rheumatismus, nicht die Eitel­keit – zum Verschwinden. Nun nahm ich aber zur Stärkung mei­ner stiefmütterlich gepflegten Körperkraft wenigstens Schwimm­unterricht. Ich sagte mir, wie leicht kann es kommen, daß man im späteren Leben einmal gegen den Strom schwimmen muß, des­halb wird es gut sein, beizeiten zu lernen, wie es gemacht wird.

Sonntags lud mich die Wirtin bisweilen zu Tische. Sie war ein liebenswürdiges, ehemals gewiß auch hübsches Fräulein von einigen fünfzig Jahren, in ihrer Herzensgüte un­ermüdlich bestrebt, mir das Dasein freundlich zu gestalten und dabei die Härten meiner Gemüts- und Charakterbildung abzuschleifen. Als ein Muster an Tüchtigkeit, Anspruchs­losigkeit und Menschenfreundlichkeit stellte sie mir mit Vorliebe einen ihrer Jugendbekannten, den königlichen Leibarzt Fiedler, vor Augen; ich habe ihr Urteil später bestätigen können, als ich dem ausgezeichneten Manne in wissenschaftlichem Verkehr selbst freundschaftlich näher trat. Für ihre Person durchaus bescheiden, erzählte sie doch gern von mehr als einem Freier, den sie in ihrer Jugend abgewiesen. Ihr großer Kater Peter hörte dann verständnisinnig schnurrend zu, aus seinen grün­schillernden Augen leuchtete der Stolz, daß er allein sich ihrer Zuneigung rühmen dürfe. Er schloß dies wohl auch daraus, daß es ihm erlaubt war, beim Essen nicht bloß wie ich an, sondern auf dem Tische zu sitzen und bei besonderen Bissen sogar mit zuzulangen. Jedoch der schwarze Peter irrte sich, ich hatte ihm, wie sich nachträglich herausstellte, unbewußt den Rang abgelaufen. Wenige Wochen nach meinem Schei­den von Dresden schrieb mir die Gute: „Je dunkler der Grund eines Gemäldes ist, desto schöner treten die lichten Gestalten auf demselben hervor. Wenn ich mir nun unter dem dunkeln Gemälde mein Leben vorstelle, so male ich mir im Geiste Sie, bester Otto, als eines jener lichten und freundlichen Wesen, die auch aus der Ferne her in schönen Farben vor meine Seele treten.“ Ein goldnes Ringlein, das sie mir beim Abschiede [25] verehrt hatte, bewahre ich bis heute in meiner Andenkenschachtel als Unterpfand meiner ersten, ungewollten Eroberung.


Äußere und innere Welt.

Die Gunst meiner Lehrer verschaffte mir hie und da Gelegenheit zu einträglicher Tätigkeit. Dem reichen Besitzer des Hauses neben der Schule diente ich als Vorleser aus der „Gartenlaube“, die Stunde 5 Neugroschen. Im ganzen konnte ich wohl ordentlich lesen, aber als ich einmal – es war vor meiner Bekanntschaft mit dem General Xenophon – Phä­nomen statt Phänomen sagte, ward der alte Griesgram über diese mangelhafte Arbeit unwillig und hätte mir am liebsten einen halben Stundenlohn abgezogen. Neben der klingenden Münze brachten mir meine Vorlesungen doch auch einen gewissen inneren Gewinn, denn ich wurde dabei in die Lehren „vom ge­sunden und kranken Menschen“ und sogar in die „Geheimnisse der alten Mamsell“ eingeweiht. – Ein stark nach Patschuli duftender polnischer Adelssproß erhielt von mir Nachhilfe­unterricht; ich nahm von ihm für zwei Stunden täglich einen vollen Taler, denn ich betrachtete es als eine gute Gelegenheit, die Polen, die uns in früheren Jahrhunderten so viel geschadet hatten, einmal tüchtig bluten zu lassen. – Gleichzeitig über­nahm ich es, im Hause eines Arztes die Schularbeiten des Sohnes zu überwachen. Dabei verschlang ich das auf dem Tische liegende Buch „Kraft und Stoff“ von Büchner und lernte daraus in den Lehren des Materialismus eine mir ganz neue Gedankenwelt kennen. Sie vermochte meinen jugend­lichen Idealismus nur ein wenig zu erschrecken, nicht zu er­schüttern, ganz überflüssig war es aber wohl nicht, daß der Arzt mich vor dem Ansteckungsgift des Buches warnte. Ein Jahrzehnt später bin ich mit diesem biedern Manne selbst noch in freundschaftlichen Verkehr getreten. Es war [26] derselbe, der im Rate der Stadt, als man über die Frage be­riet, ob das Marmorstandbild der Germania auf dem Alt­markt im Winter mit einem Schutzdache versehen werden solle, den nicht bloß für seine Zeit zutreffenden Ausspruch tat: Was nützt mir die Germania, wenn sie zugedeckt ist!

Mein Lehrer der englischen Sprache, der freundliche und gesprächige Dr. Peschel, der viel Beziehungen zur angel­sächsischen Rasse hatte, empfahl mich einer jungen Witwe aus Neuyork, als sie ihrem Jüngsten in den großen Ferien einige Wiederholungsstunden geben lassen wollte, damit er die soeben mühsam erworbenen Anfänge des Lateinischen nicht wieder verschwitze. Ich zog mit der Familie auf vier Wochen in die Sommerfrische nach Gohrisch bei Königstein. War das eine Herrlichkeit! Luftige Wohnung in „Annas Hof“, glänzende Verpflegung, Herumstreifen in der schönen Gebirgsnatur der Sächsischen Schweiz und dabei täglich nur zwei Stunden Unterricht! Aus den Gesprächen an der Wirtstafel lernte ich mir manchen Vers von den Anschauungen fremder Völker zusammenreimen, denn es waren Gäste von weither, darunter eine holländische Pflanzerfamilie zugegen. Die Kosten der Unterhaltung bestritt aber hauptsächlich ein be­redter Berliner Polizeidirektor, der uns in alle Geheimnisse der ihm anvertrauten Verbrecherwelt einweihte. Zum Über­maß der Wonne trat mir das amo amas amat, das ich mit dem kleinen George buchstäblich behandelte, auch lebendig über­wältigend nahe: ich verliebte mich sterblich in die zarte, fein­gebildete Amerikanerin. Was ich ihr nur an den Augen ab­sehen konnte, tat ich – und ich sah ihr viel in die Augen! Es hätte nicht des Veilchengeruchs ihrer gestickten Taschentücher bedurft, um mich jedesmal, wenn ich in ihre Nähe kam, in einen sinnbestrickenden Zauberduft einzuhüllen. Da mußte ich es eines Abends erleben, daß die Angebetete am Arme ihres Dresdner Arztes den Berg heraufgestiegen kam. Es gab mir einen Stich ins Herz, meine Augen umflorten sich, [27] und der im Hintergrunde aus dem Elbnebel aufragende Lilienstein erschien mir wie in einen Trauerschleier gehüllt. Von dem Augenblicke an folterten mich alle Qualen der Eifersucht. Eine Zeitlang besuchte ich dann die ahnungslose Beherrscherin meiner Gefühle noch in ihrer Wohnung auf der Mosczinskystraße und genoß an ihrem Tische das Glück ihrer Nähe. Endlich trat die geargwohnte Verbindung wirklich ein, ich fühlte im Innern einen luftleeren Raum. Wie hätte jedoch eine verwöhnte Amerikanerin eine gute deutsche Hausfrau werden können! Als ich später erfuhr, welch unglücklichen Ausgang die von mir beneidete Ehe ge­nommen, war ich in tiefster Seele bewegt. Die Liebe soll sich nicht vermessen, ein trennendes Weltmeer überbrücken zu können. „Des Meeres und der Liebe Wellen“, ein Trauerspiel!

Peschel vermittelte mir mehrmals auch die Bekannt­schaft mit einem jungen Engländer, damit dieser bei der Unter­haltung auf gemeinsamen Spaziergängen sich im deutsch, ich mich im englisch sprechen üben sollte. Beim ersten Zu­sammentreffen in einem Fremdenheim auf der Prager Straße brach mir der Angstschweiß aus, da zunächst keiner eine Silbe von dem andern verstand. Aber allmählich tauchten mir aus dem quirlenden Sprachbrei des Engländers einzelne Worte deutlich auf, und ich hielt sie krampfhaft fest, um daraus not­dürftig einen Sinn zusammenzuleimen. Aus dem anfänglichen Radebrechen wurde schließlich doch eine Art Zwiegespräch. Der erste dieser Söhne Albions, ein Walliser, war ein prahle­rischer Sportsmann: er hielt den Ruderwettstreit zwischen Oxford und Cambridge für wichtiger als alle Kriege der Welt­geschichte und versprach beim Abschiede, mit seinem Segelboote die Elbe heraufzufahren, um mich zu einem Besuche in Eng­land abzuholen. Da konnte ich lange warten! Der zweite, ein Schotte, lebte ganz in religiösen Schwärmereien, noch später suchte er brieflich mich davon zu überzeugen, daß ein in [28] seiner Heimat auftretender Prophet, der die baldige Wieder­kunft Christi verkündigte, ein Bote Gottes sei. So habe ich damals die in meiner Kindheit gehörten Reden von „ver­rückten Engländern" durch lebende Beispiele einigermaßen bestätigt gefunden.

Noch tiefer als einst in Gohrisch wurde ich in die Geheim­nisse einer üppigen Lebensführung eingeweiht, als mich ein Schulkamerad, der Sohn eines reichen Kaufmanns in Freiberg, zu seinen Eltern in die Weihnachtsferien eingeladen hatte. Seit dieser von leiblichen Genüssen strotzenden Woche waren Sekt und Austern für mich keine inhaltlosen Begriffe mehr, aber ein Verlangen nach ihnen blieb bei mir nicht zurück.

Im geselligen Verkehr vermochte mich nur lebendiger Meinungsaustausch zu fesseln, den üblichen Unterhaltungsspielen, besonders mit Karten, gewann ich keinen Reiz ab und hielt mich hartnäckig davon fern. So habe ich nie einen Pfennig Geld verspielt. Ebensowenig liebte ich für geistige Getränke viel aufzuwenden. Mitunter nur genoß ich gern ein Glas kräftigen Kulmbacher Bieres, und zwar möglichst allein, um damit die aufkeimenden Gedanken für die deutschen Aufsätze zu begießen. Zu diesem Zwecke besuchte ich in der Dämmerstunde die Rennersche Wirtschaft in der Großen Brüdergasse und saß dort, wenn kein Wandtischchen frei war, still mit an dem großen Mitteltische, wo der berühmte Sänger Anton Mitterwurzer sein Dutzend Schoppen, die er zur Ver­meidung unliebsamer Schlußabrechnung alle einzeln aus der Westentasche bezahlte, in seinen mächtigen Leib goß.

Daß Renners Großmutter, eine geborene Segadin, von Schiller als „Gustel aus Blasewitz“ zur Unsterblichkeit er­hoben worden war, gab der Örtlichkeit in meinen Augen eine höhere Weihe und begeisterte mich bisweilen zu dem Ent­schlusse, mir noch ein zweites Glas kommen zu lassen.

Auch das Tanzen war nicht meine Leidenschaft. Das lag wohl mit daran, daß ich in dieser edlen Kunst nicht ganz auf der [29] Höhe stand. Schon in der Tanzstunde hatte mir der Walzer nicht recht in den Kopf oder vielmehr in die Beine gewollt. Als ich in der mir übertragenen Dankrede zur Schlußfeier des Unterrichts die anmutspendende Muse der Tanzkunst bei den alten Griechen als unsre Schutzgöttin in Anspruch nahm, wäre es nicht zu verwundern gewesen, wenn die schöne Terpsichore mich wegen öffentlicher Beleidigung verklagt hätte. Vielleicht wirkte in mir noch das Vorbild nach, das mir in meiner Kind­heit die Tanzgesellschaften der herumziehenden Bärenführer geboten hatten. Wenn man nun auch auf Bällen nicht gerade an der Kette und mit einem Ringe durch die Nase auftrat, so ward mir doch schon jede andere, noch so zarte gesellschaftliche Fessel leicht lästig. Als Schüler bin ich ein einziges Mal zu einem Tee- und Tanzabend eingeladen gewesen, und zwar bei den Eltern meines Freundes Sorge. Das war ein Ereignis ersten Ranges in meinem Jünglingsdasein. Zuvörderst mußte ich der freundlichen Frau Oberbaurat meinen Besuch machen, um ihr die richtige Einschätzung meiner Beine und Eßwerkzeuge zu verschaffen. Wie der Einsiedlerkrebs, der mit dem Hinterleibe im leeren Schneckenhause sitzt, erschien ich am Fest­abend im fremden Gehäuse: das Gewand, das meine oberen Glieder umhüllte, hatte mir ein Schneider und Frackverleiher auf der Wilsdruffer Straße anvertraut. Ich hielt mich, wie auch bei späteren Gelegenheiten, mit Vorliebe an die im Alter schon vorgeschrittenen Mädchen, weil ich mit diesen am ehesten eine leidlich vernünftige Unterhaltung zustande bringen und überdies hoffen konnte, daß sie sich auch mit einem minder be­gnadeten Tanzkünstler zufriedengeben würden.

Von geistigen Genüssen habe ich mir nicht leicht etwas entgehen lassen, was mit meinen schwachen Mitteln erreichbar war. Als ich nach Dresden kam, sah ich noch die Trümmer des abgebrannten Semperschen Theaters rauchen. Statt dieses prächtigen Bauwerks erstand sehr bald als „Interimstheater“ ein anheimelnd einfaches und im Innern übersicht­liches [30] Holzgebäude. Hier habe ich, im Stehparkett an die Rückwand angelegt – die standesgemäße Galerie war kein günstiger Platz für Kurzsichtige – gar manchen Abend im andächtigen Genießen klassischer Dramen verbracht und von den Leistungen hervorragender Künstler – eines Friedrich Dettmer, einer Marie Bayer, einer Pauline Ulrich und als Gast einer Clara Ziegler – unvergeßliche Eindrücke in mich aufgenommen. Auch die große Oper zog mich oft in ihren Zauberbereich, aber Spielopern und Lustspiele besuchte ich als sparsamer Mann nur selten, sie gaben mir für mein Geld nicht genug zu sehen und zu hören, und da ich mich in meiner Lage glücklich fühlte, war auch mein Erheiterungsbedürfnis nicht groß. Regnerische Sonntage gehörten, soweit nicht die Arbeit sie in Anspruch nahm, den reichen Kunstsammlungen der Stadt, besonders der Gemäldegalerie. Ich kann aber nicht sagen, daß ich, jeder Anleitung entbehrend, ihre Schätze mit dem rechten Verständnis genossen hätte. Zwar stand ich einem so erhabenen Werke wie Raphaels Sixtinischer Ma­donna, das mir schon in der brüderlichen Werkstatt aus Kupfer­stichen vertraut geworden war, mit der gebührenden Andacht gegenüber, und vertiefte mich mit Hochgenuß in die lebenswahren Schilderungen der alten Holländer, jedoch auch eine theatra­lische Darstellung wie Hübners Disputation Luthers mit Eck flößte mir gewaltige Achtung ein, und dies lediglich um ihres bedeutenden geschichtlichen Gegenstandes willen.

Und wie stand es Sonntags mit der Kirche? Ich hatte schon zeitig dazu geneigt, mir draußen in der heiligen Stille des Waldes mein Gotteshaus selbst zu bauen. Einer Reli­gionslehre, die für die Sagen und Geschichtsbücher des alttestamentlichen Judentums im Seelenschrein des deutschen Christenmenschen den besten Platz beanspruchte, stand ich an sich schon kühl gegenüber. Nun brachte es unser Religionslehrer mit seinem öden, gedächtnismäßigen Buchstabenkram fertig, mich mehr und mehr in freigeisterischen Widerspruch hineinzutreiben. [31] Unter seinem erkältenden Einflusse versank mein kirchlicher Sinn in einen langen Winterschlaf. Aber die Rätsel des Daseins in Zeit und Ewigkeit haben mich auf einsamen Spaziergängen immer beschäftigt, ohne mich gerade in Seelenkämpfe und innere Erschütterungen zu stürzen. Was ich mir in ruhigem Nachsinnen unklar zusammenreimte, mag ungefähr dem Pantheismus Fichtes entsprochen haben:

„Das Ewige Eine lebt mir im Leben, sieht in meinem Sehen. Nichts ist denn Gott, und Gott ist nichts denn Leben.“

Zu einer gefestigten Weltanschauung gelangte ich als junger Mensch natürlich noch nicht, jede Lehre, die ich kennenlernte, wirkte gestaltend auf mein für neue Eindrücke empfäng­liches Gemüt. Ich nahm das Gute, wo ich es gefunden zu haben glaubte, in mich auf und strebte vor allem nach dem, was das Leben von mir zu fordern schien: durch Arbeit mein schwaches Ich zu vervollkommnen. Erst nach vielen Jahren habe ich die Folgen jenes seelenlosen Religionsunterrichts völlig überwunden und aus überzeugender Lebenserfahrung heraus die Segnungen der Kirche würdigen gelernt.


Auf dem Schulwege.

Zur Schule wanderte ich täglich über die Marienbrücke und konnte auf dem unten fließenden Strome Grüße nach der Vaterstadt gelangen lassen. Die Brücke, die auch der Eisen­bahn diente, war eine Altersgenossin von mir, trotzdem gefiel sie mir nicht, denn man bewegte sich auf ihrem Rücken fort­während zwischen Zügen von Lastwagen und Wagen von Lastzügen, die in ohrenbetäubendem Gerassel einander begegneten. Eine Entschädigung für diese Unruhe bot aber die freie Aussicht, diesseits der Elbe auf die wuchtige Augustusbrücke, die gewaltige Kuppel der Frauenkirche und die Türme und [32] Prachtbauten der Altstadt, jenseits auf den stolzen Japanischen Palast. Wenn ich dann an diesem vorüberkam, dachte ich manchmal mit stillem Verlangen an die ungeheuren Bücherschätze, die darin aufgestapelt sein mochten, mir jedoch ver­schlossen waren. Zwar lud die Aufschrift des Gebäudes Museum usui publico patens jedermann zum Zutritt ein, ich wurde aber zu diesem Publikum noch nicht gerechnet. Nur die große Vorhalle durfte ich betreten, wo in feierlichen Reihen die Marmorbüsten der römischen Kaiser standen, ein Stück steingewordener Weltgeschichte. Wenn ich geahnt hätte, daß ich dereinst selbst die Schlüssel zu diesen geweihten Räumen in der Tasche tragen würde! In die Königstraße einbiegend war ich stets verwundert, in welchem Mißverhältnis die niedrigen Häuserfluchten zu der ansehnlichen Straßenbreite standen; konnte ich doch nicht wissen, daß der Schöpfer der Neustadt, August der Starke, eine solche Bauweise angeordnet hatte, damit sein quer vor die Straße gesetzter Palast um so beherr­schender wirkte.

Auf diesem Platze hatte ich im November 1872 ein hübsches Erlebnis. Kaiser Wilhelm I. weilte zur Feier der goldenen Hochzeit des sächsischen Königspaares in Dresden. Die edle Persönlichkeit des greisen Fürsten hatte auch das Herz meiner Mutter so völlig gewonnen, daß sie sich – zum ersten Male in ihrem Leben – entschloß, nach der Hauptstadt zu kommen, um ihn zu sehen. Wir stellten uns an einer menschen­leeren Stelle vor dem Japanischen Palast auf, wo er vorbei­fahren sollte. Er kam, unsre kleine Gruppe grüßte und er dankte mit besonderer Aufmerksamkeit. Man mußte die Freude der guten Mutter sehen, daß ihr, der einfachen Arbeiterfrau, ihr Kaiser so freundlich zugenickt hatte!

Nach Hause ging ich aus der Schule nicht denselben Weg zurück. Der Friedrichstädter wie der Neustädter lebte in beinahe kleinstädtischen Verhältnissen und fühlte sich mit mag­netischer Kraft zu der geschäfts- und verkehrsreicheren Altstadt [33] hingezogen. So ging es auch mir. Über den Neustädter Markt, vorbei an dem vergoldeten Reiterstandbild jenes ruhmbegierigen Herrschers, dessen dickes Schlachtroß einst den ganzen Wohlstand seines Sachsenlandes verschlungen hatte, so daß nicht einmal die Mittel zum Behauen des Sockels übriggeblieben waren – vorbei an der Hauptwache, wo starke Ketten den Insassen des grün-weißen Schilderhauses gegen Angriffe der Gassenbuben schützten – hinaus auf die Augustusbrücke, deren rußiges Gewand wohl die Trauer um die schönen alten Zeiten andeutete, als behäbige Bürger in Frack und Dreimaster mit Frauen und Töchtern hier einherspazierten und auf den Pfeilerbänken ausruhend die noch von keiner Dampfesse verdickte Abendluft genossen. Wie oft stieg ich dann die Treppe zur Brühlschen Terrasse hinauf, an deren Fuße die beiden gemütlichen Löwen lagerten, die jetzt am Südeingange des Großen Gartens die Ungestörtheit liebender Paare bewachen. Brühlsche Terrasse – der Name faßte für Einheimische und Fremde all die Schönheit in sich, die Dresden in Natur und Baukunst zu bieten vermochte. Hier schaute man hinaus auf die blauen Berge der Lößnitz, auf die bewaldeten Höhen der Heide, auf die Weingelände von Loschwitz bis Pillnitz und die in der Ferne verschwimmenden Felsengebilde der Sächsischen Schweiz, hinüber auf die Prachtbauten von Hofkirche, Schloß und Museum, hinab auf den von Dampfern, Lastkähnen und Holzflößen belebten Strom, auf dem sich ehedem ein verschwenderischer Hof mit Wasserjagden, venetianischen Lustflotten und römischen Feuerwerken ver­gnügt hatte. Wie angenehm mußte es sich in dieser Umgebung sitzen und träumen unter dem Säulenbau des feinen Kaffee­hauses Torniamenti! Aber freilich, für einen Schulfuchs, auch einen mit Bartwuchs gesegneten, war das nicht bestimmt, der hatte zu wenig Geld und zu viel zu tun. – Hier wurde ich bald nach meiner Ankunft in Dresden zufällig Zeuge eines grausigen Schauspiels. An einem Novembermorgen tönten mitten [34] hinein in das Bußtagsgeläute die Sturmglocken: es brannte einer der beiden mächtigen Pontonschuppen, die der Terrasse gegenüber wie vom Strome abgesetzte Riesenkähne auf die Wiese hingestreckt lagen. Das mit militärischen Vorräten angefüllte Gebäude erschien in eine Feuersglut gehüllt, gegen die der Brand in meiner Geburtsstunde ein Nachtlicht war.

Auf dem Wege zum Speisehause kam ich in der Schloßstraße an der Meißner Porzellanniederlage vorbei und konnte bisweilen nicht umhin, ein paar Minuten stehenzubleiben. Wie mich das anheimelte! War doch im Schaufenster sogar der ehrwürdige kleine Goethe mit ausgestellt, den ich in der Kunstsammlung meines Vaters selbst in rissigem Zustande liebgewonnen hatte. Wenn Zeit genug war, ging ich gern durch die von himmelhohen Häusern mit schmuckreichen Erkern eingefaßte Straße weiter bis zum Altmarkte, der mir mit seinen geschlossenen Wänden und den vielen Fenstern und Firmenschildern wie ein gewaltiger Saal mit Gemälden er­schien. Auf diesem weiten Platze lagen die Erinnerungen an Dresdens Vergangenheit von der Stadtgründung an bis auf die Errichtung des neuen Deutschen Reiches in unübersehbarer Fülle ausgebreitet. Was darüber in einer Chronik zu lesen war, die ich auf dem Jahrmarkte bei dem gelehrten alten Büchertrödler Flachs erstanden hatte, ward mir hier anschaulich und lebendig. Da vollzog sich einst ein reger Verkehr fremd­ländischer Kaufmannswagen und einheimischer Bauernkarren, da wurden Gerichtssitzungen und Hinrichtungen, Bürger­versammlungen und landesherrliche Huldigungen, kirchliche Umzüge und biblische Volksschauspiele abgehalten, da gab es Turniere und Ringrennen, Tierhetzen, Bärenjagden und Fuchsprellen, fürstliche Auffahrten und Hochzeitsfeste mit Wein- und Geldausspenden, aber dann auch kriegerische Beschießung und furchtbare Feuersbrunst, feindliche Heer­lager und bürgerlicher Aufstand, zuletzt wieder herrliche Bekundungen vaterländischer Begeisterung und noch vieles, [35] vieles andere, das mir nach und nach gewiß alles würde ein­gefallen sein, wenn ich öfter bei Herrn Kaspar Trepp an der Ecke der Scheffelgasse eingekehrt wäre und in Ruhe ein Täßchen sächsischen Mokka geschlürft hätte. Jedoch ich betrat dieses bei allen Evatöchtern beliebte Kuchenparadies nur ein einziges Mal, und zwar weniger um leiblichen Genießens als um einer sittengeschichtlichen Merkwürdigkeit willen. Hier verkehrte nämlich der letzte der einst bei der katholischen Hofkirche als Sopransänger angestellten italienischen Kastraten, und von diesem wurde erzählt: mehrere Frauen, mit denen er sich wiederholt freundlich unterhalten, hätten sich nachher bei der Bedienung nach Namen und Stand des liebenswürdigen Gastes er­kundigt und auf die Auskunft hin, das sei der Kastrat Ciccarelli, ihn beim nächsten Zusammentreffen mit dem höflichen Gruße empfangen: Guten Tag, Herr Kastrat! Der Markt bot aber auch ohne Kaffee und Kastraten, ohne Fliegende Blätter und Dresdner Nachrichten Genuß und Anregung genug. Das niedrige Chaisenhaus an der Schreibergasse, ein Mittelding zwischen Schuppen und Tempel, das die Dresdner seit Jahrzehnten verhöhnten, war für mich durchaus kein Stein des Anstoßes, sondern eine geschichtliche Sehenswürdig­keit: in seiner Halle sah man im wohlverdienten Ruhestande reihenweise die alten gelben Sänften stehen, das schwerfällige Verkehrsmittel einer leichtlebigen Vorzeit, und draußen saßen auf langer Bank die befrackten Träger, gemächlich ihr Pfeifchen schmauchend und wehmütig ihrer glücklichen Vorgänger ge­denkend, die einst alle Hände voll zu tun hatten, um vornehme Damen im spreizenden Reifrock und hochmögende Herren mit wallender Lockenperücke zu glänzenden Festen im Königs­schlosse und in den Adelspalästen abzuholen. Nächst diesem eindrucksvollen Denkmal sächsisch-polnischer Herrlichkeit, auf dessen Dach ein halbes Jahrhundert hindurch die schönheitsdurstigen Augen des nahebei wohnenden großen Bildnismalers Anton Graff geruht hatten, ließ ich auch das feingegliederte, [36] bescheiden unter die Bürgerhäuser sich einordnende Rathaus nicht außer acht, dessen goldne Aufschrift Salus publica suprema lex mir die beruhigende Gewißheit gab, daß ich mir vorläufig um das Wohl der Stadt keine Sorge zu machen brauchte.

Weiter schlenderte ich durch die „Wilsche Gasse“, die sich, nach den Namen auf den Firmenschildern zu urteilen, von den Folgen der großen Judenverbrennung des Jahres 1349 völlig erholt zu haben schien, hinaus nach dem Postplatze. Jawohl, der Postplatz! Den kannte ich von Kindesbeinen an, längst bevor ich ihn gesehen. Hatten sich doch im Mai 1849 hier die Revolutionskämpfe abgespielt, deren Abbildung mir auf dem bewußten Örtchen in meinem Geburtshinterhause täglich vor Augen stand. O wie da die Kanonenkugeln der sächsischen Artillerie die Mauern des Postgebäudes und des Turmhauses zerfleischten und die blauen Bohnen der Turnerscharfschützen auf die stürmenden Pickelhauben niederprasselten! Das waren Bilder, die für immer im Gedächtnis hafteten. Mit ihnen beschäftigt, setzte ich meinen Heimweg zum friedlich schnurrenden Peter durch die Ostra-Allee fort, an ihrem Ein­gange ob der Rätsel des Menschenschicksals mit den vor der Freimaurerloge liegenden Sphinxen einen verständnisvollen Blick austauschend und an ihrem Ausgange die vor allem wichtige Ernährungsfrage lösend, indem ich im Büdchen schnell noch ein frisches Sechspfundbrot unter den Rockschößen barg.

Das war fast Tag für Tag mein Spaziergang. Zu Aus­flügen in die Umgegend bin ich bei der Knappheit meiner Zeit nicht gar oft gekommen. Mitunter wandelte ich, Luftschlösser bauend, allein durch die Baumreihen des Ostrageheges, wo sechzig Jahre früher der kleine Korse geritten, den Plan des verhängnisvollen Feldzugs nach Rußland in seinem Haupte wälzend. Bisweilen ging ich mit meinem in der Neustadt verbliebenen Busenfreunde in das Tal der leise durch den Heidesand rieselnden Prießnitz oder dem Elbstrome ent­gegen, der noch immer unfehlbar seine belebende Wirkung auf [37] mein Inneres ausübte. Aus den vom Winde gekräuselten Wellen tauchten da die heimatlichen Wassergeister vor meinem seelischen Auge auf, und wo die glitzernden Fischlein im Sonnen­schein ihre vergnügten Luftsprünge machten, erlebte ich an mir das Dichterwort des seligen Brockes: „Ein zufriedenes Gemüt freut sich, wenn es Fische sieht.“ Die grün und weiß bemalten Dampfer, besetzt mit buntgekleideten fröhlichen Ausflüglern, glitten an uns vorüber wie Bilder einer freundlichen Zukunft. In Loschwitz stiegen wir hinauf zu dem anmutig gelegenen Burgberge, einer stillen ländlichen Gaststätte, die damals noch nicht auf die Dächer von Mietskasernen und ein breit­spurig hingelagertes Brückenscheusal herabschaute. Hier unter­hielten wir uns bei einem Glase einfachen Bieres von der Freundschaft Körners mit Schiller und bekräftigten dabei unsern eignen Seelenbund.

Meine Wanderlust betätigte sich unwiderstehlich in den Schulferien. Ich habe manchmal den fünfstündigen Weg von Meißen nach Dresden auf dem linken Elbufer singend und pfeifend zu Fuß zurückgelegt und bin sogar einmal, um meine Kraft zu erproben, an demselben Tage in der Sommerhitze auf der rechtufrigen Landstraße wieder zurückmarschiert. Da hielt mich freilich zuletzt, wie einst den Siegesboten von Marathon, nur noch der Ehrgeiz aufrecht, das Vorhaben zu vollenden. Aber ich konnte, zu Hause angekommen, nicht ausrufen: „Mitbürger, freut euch, wir haben gesiegt!“ Ich sagte nur: „Mutter, ich gehe gleich zu Bett!“

In den Sommerferien pflegte sich das große Dresdner Volksfest, die „Vogelwiese“, abzuspielen, die allen Schilde­rungen nach die Hochgenüsse des heimischen Jahrmarkts und Schützenfestes weit hinter sich lassen sollte. Es schien sich zu lohnen, dazu einmal den Marsch von Meißen herauf zu unter­nehmen. Selbstverständlich hatte ich es als strebsamer Sekun­daner nur auf das abgesehen, was dort in Kunst und Wissen­schaft geleistet wurde. Als ich erwartungsvoll dem Festplatze [38] am Eliasfriedhofe zuschritt, überzeugte ich mich schon von weitem, daß die musikalischen Darbietungen auf sehr kräftige Nerven berechnet waren. Ohne jedoch schwindlig zu werden, wand ich mich zwischen einem Dutzend Karussells mit dem Tönegewirr von ebensovielen großen Leierkasten hindurch und gelangte zunächst an das Zelt der Riesendame. Ich war nicht abgeneigt, so etwas kennenzulernen, befürchtete aber, ich könnte als übereifrig getadelt werden, da die Anthropologie bei uns erst in der Oberprima Lehrfach war. Daher entschloß ich mich, lieber Ethnologie zu treiben, für die in mehreren großen Buden mit Vertretern wilder Völkerschaften gesorgt war. Vor der ersten schrie ein Ausrufer mit dem Aufwand des letzten Restes einer heiseren Stimme: „Treten Sie näher, meine Herrschaften, Sie sehen hier das Großartigste, was je in Europa gezeigt worden ist: einen Stamm von echten Menschen­fressern aus dem äußersten Innern von Afrika. Man darf ihnen nur mit Vorsicht zu nahe kommen, nur notgedrungen nähren sie sich hier von lebendigen Kaninchen. Niemand wird es bereuen, für diesen seltenen Genuß ein so geringes Opfer ge­bracht zu haben: erster Platz nur 50, zweiter Platz 25 Pfennige. Nur was das Auge sieht, das glaubt das Herz. Säumen Sie nicht, meine Herrschaften, der König der Schwarzen gibt sogleich das Zeichen, und der Anfang der Vorstellung beginnt!“ Ich ging sorgfältig prüfend zur nächsten Bude. Hier herrschte ein weniger lauter Ton der Anpreisung. Wenn die Wilden drinnen ihr Gebrüll und Waffengeklirr erhoben, erläuterte das draußen der Erklärer, ruhig hin und her schreitend, in der überlegenen Sprechweise eines wissenschaftlichen Vortrags: „So feiern diese harmlosen Naturvölker ihre Feste. Es ist eine Art Schnittertanz, den sie aufführen, wenn sie von einer reichen Kokosnußernte zurückkehren...“ Seine Sachlichkeit zog viele Besucher an, und auch ich ließ mich beinahe bestimmen, ihnen in die Bude zu folgen, hätte ich nur den Gedanken los werden können, daß ich diesen Wilden vielleicht schon wenige [39] Tage später, nach Ablegung ihrer schwarzen Hautfarbe, in der Nähe meiner Wohnung, in der Friedrichstadt begegnen würde. – Meine ersten Groschen trug ich in das nebenan aufgeschlagene große Weltpanorama, wo man die bedeutendsten Ereignisse der letzten Jahrzehnte, wie den Taiping-Aufstand in China, die Erstürmung der Düppler Schanzen, die Er­mordung des Präsidenten Lincoln und vieles andere zu sehen bekam. Ich begrüßte dies als wertvolle Ergänzung unseres Geschichtsunterrichts, der in seiner gewohnten Gründlichkeit bei den Taten Bonapartes und des Marschall Vorwärts außer Atem kam und mit dem Wiener Kongreß seinen Geist aufgab. An geschichtlichen Kenntnissen bereichert hatte ich diese Stätte verlassen, da fiel mir ein Schild in die Augen: Floh-Zirkus. Ich fühlte mich versucht, dem offenbar dahintersteckenden Schwindel nachzuspüren, aber wie ward ich von dem Befund überrascht: alles war echt, eine reizende Künstlerschar entstieg einem wattegepolsterten Schächtelchen! An goldne Kettchen gefesselt, ließ der Direktor sie Schwertkämpfe ausfechten und, an niedliche Wägelchen gespannt, Rundreisen um den Tisch ausführen, worauf er ihnen zur Belohnung auf seinem Arme eine Blutsuppe verabreichte. Die erstaunliche Abrichtung dieser liebenswürdigen Künstler bot ein Beispiel höchster Ausdauer und Geduld und war mir als pädagogische Leistung um so lehrreicher, als ich selbst schon angefangen hatte, kleine leichtfüßige Springer aus der Sexta zu unterrichten. – Von hier wanderte ich weiter durch das von Menschen­massen, Staubwolken und Geräuschen erfüllte Gewirr der Zelt- und Budengassen mit ihren zahllosen Schaustellungen von wilden Tieren, Riesen, Zwergen und Mißgeburten, mit Marionetten- und Kaspertheatern, Singspielhallen, Zauber­sälen, Lachkabinetten und Irrgärten, mit Tanzsälen, Reit- und Rutschbahnen, Hexenschaukeln, Schieß- und Würfel­buden und dazwischen hineingestreut einem Schwarm von Krakelständen, auf denen Würstchen und Pöklinge, Kuchen, [40] Zuckerzeug, Zigarren, saure Gurken und andere erlesene Genuß­mittel vor der lüsternen Menge ausgebreitet lagen. Die an­strengende Entdeckungsreise hatte bei mir Hunger und Durst rege gemacht und ich begab mich in eins der großen Bierzelte, um durch eine knusprige Bratwurst mit Sauerkraut und ein Glas schäumenden Gerstensaft, alles zusammen für 65 Pfennige, die ermatteten Lebensgeister aufzufrischen. In einem ruhigen Winkel, abseits vom lärmenden Getriebe, stieß ich auf den braven Kasperle, inmitten einer kleinen Zuhörerschaft von Verehrern, denen eine gebildete Unterhaltung noch einen Dreier wert war. Der schüttete ein Füllhorn von Kraftworten über seine Gegenspieler aus und setzte dem unbefugt sich ein­mischenden Teufel den Kopf so gründlich zurecht, daß das buntleinene Tempelchen in allen Wänden wackelte. Ich konnte mir nicht versagen, der Lebensweisheit dieses unverdorbenen Gemütsmenschen ein Viertelstündchen zu lauschen. Als würdigen Abschluß des Tages gedachte ich mir dann noch einen höheren Kunstgenuß zu verschaffen und begab mich in das Theater der Witwe Magnus. Es war eine Enttäuschung. Das aufgeführte Ritterschauspiel kam nicht wirksam zur Geltung, weil die Zuschauer zuviel in das Stück hineinredeten und die Darsteller, die fortwährend aus den ihnen auf die Bühne heraufgereichten Biergläsern Bescheid tun mußten, nicht ganz nüchtern waren und sich nicht ritterlich benahmen. Ziemlich verstimmt verließ ich den Schauplatz und wanderte meiner Schlafstätte zu. Die auf der Vogelwiese gewonnenen Eindrücke waren so tief und mannigfaltig, daß ich für das ganze Leben genug hatte.


Große und kleine Erlebnisse.

Seit dem Sommer 1870 galt außerhalb der Schule all mein Sinnen und Trachten dem Aufschwunge Deutschlands. [41] Die ruhmvollen Ereignisse des Jahres brachten das vater­ländische Gefühl im Volke mächtig in Wallung, der deutsche Michel streckte kraftbewußt die Glieder. Kurz vor Ausbruch des Krieges nahm ein französischer Photograph in unserem Schulhofe klassenweise die Lichtbilder der ganzen Schülerschaft auf. Dann verschwand er, ohne ein einziges der bestellten Blätter abgeliefert zu haben. Es war vermutlich ein schlauer Spion, den die arglosen Deutschen ungestört hatten im Lande herumreisen lassen; der konnte nun seinem eroberungssüchtigen Herrscher neben geheimen Nachrichten viele Hunderte junger Feinde auf die Platte eingefangen überliefern. Welche Er­regung, als das Wort Krieg von Mund zu Munde eilte, welcher Jubel, als die Heeresnachrichten an den Anschlag­säulen Sieg auf Sieg verkündeten und vollends welcher Stolz, als die rothosigen Gefangenen zu Tausenden und Abertausenden ankamen. Die ersten Trupps von ihnen wurden in der großen Infanteriekaserne an der Hauptstraße untergebracht. Da standen sie hinter den Fenstergittern, knüpften schwatzhaft Beziehungen zu den versammelten Neugierigen an und ver­schacherten ihnen für Geld oder Zigarren ihre Achselstücke und die Knöpfe ihrer Waffenröcke. Auch ich erstand mir für 10 Pfennige einen solchen Knopf von einem Soldaten des 86. Regiments. Wiederholt habe ich ihn nachher mit Be­friedigung in die Hand genommen, heute überkommt mich beim Anblick dieses unscheinbaren Andenkens ein Gefühl bitteren Schmerzes. Schwer mußten die leichtsinnigen Fran­zosen die Verschleuderung ihres Eigentums büßen: wenn sie im folgenden harten Winter zur Arbeit über die Marienbrücke geführt wurden, sah ich manchen unter ihnen, der seinen Waffenrock nur mit Bindfaden zusammengebunden hatte. Schlag auf Schlag folgten die Siegesnachrichten aufeinander. Noch klingt es mir in den Ohren, wie am Vormittag des 3. September der Klassenlehrer hereingestürzt kam und uns zurief: „Jungen, geht nach Hause – Napoleon ist gefangen!“ [42] Da stürmten wir jubelnd hinaus, über die Brücke hinüber auf den Altmarkt, wo in bewegten Zeiten das Herz Dresdens am lautesten schlägt. Hier ward eine kurze, aber erhebende Dankfeier abgehalten, dann zogen wir in breiten Reihen, Arm in Arm mit wildfremden Menschen, wenn sie nur Deutsche waren, die Wacht am Rhein und andere Vaterlandslieder singend, durch die Straßen, die sich schnell mit wehenden Flaggen schmückten und am Abend in glänzender Festbeleuchtung erstrahlten.

Die Ausrufung der deutschen Kaiserwürde, mit der das neue Jahr einsetzte, wurde als die Erfüllung jahrhunderte­langen Sehnens begeistert begrüßt. Anfang März kamen neue Jubeltage. Eroberte französische Kanonen und Kugelspritzen wurden festlich eingeholt und im Zwingerhofe auf­gestellt. Zur Feier des abgeschlossenen Vorfriedens veranstalteten die Studierenden einen Fackelzug, bei dem der Einritt des aus dem Zauberschlafe erwachten Kaisers Friedrich Barbarossa dargestellt wurde – gewiß, es war nur ein Mummen­schanz, und doch die jugendliche Seele tief ergreifend, denn nicht darauf kommt es ja an, was der Mensch vor Augen sieht, sondern was er dabei empfindet.

Den glanzvollen Abschluß dieser freudenreichen Zeit bildete der großartige Empfang der siegreich heimkehrenden Truppen am 11. Juli, bei dem unsre Schülerschaft in der Prager Straße Ehrenreihe stehen durfte. Da wir noch nicht „organisiert“ waren, besaßen wir keine Fahne. In aller Eile wurden Gelder zu ihrer Beschaffung gesammelt. Ich hielt zu diesem Zwecke in den unteren Klassen feurige Ansprachen; indem ich dabei die Herren Sextaner und Quintaner mit Sie anredete, hoffte ich eine unwiderstehliche Wirkung auf ihre vaterländisch erglühenden Herzen und damit auf den Geld­beutel ihrer Eltern zu erzielen. Mit einem einstweilen durch aufgeklebte Pappbuchstaben gekennzeichneten Banner und neu gegipsten weißen Mützen – die grünen hatten wir wegen [43] ihrer Ähnlichkeit mit denen der Seminaristen nicht lange vorher abgeschafft – rückten wir aus. Als „Chargierter“ an der Spitze der Unterprima kam ich mir, angetan mit einer vom Maskenverleiher geborgten Samtpekesche und weißen Stulphandschuhen, ungeheuer eindrucksvoll vor. Der Schläger, mit dem der Trödler mich ausgerüstet hatte, krankte an zer­brochener Scheide; ich mußte sie mir auf eigene Kosten zu­sammenlöten lassen, und zwar, da ich keinen Waffenschmied außer dem von Lortzing kannte, durch den Klempner. So hätte ich mich eigentlich nur als Blechsoldat fühlen dürfen, bewegte mich jedoch mit meinen Schulkameraden am Nach­mittage, als unsere Krieger auf der Waldschlößchenwiese bewirtet wurden, so selbstbewußt unter ihnen, als ob ich min­destens eine Kugelspritze im Feuer genommen hätte. Eine Lichtbildaufnahme sorgte dafür, daß der Nachwelt die stolzen Erscheinungen unserer Chargierten im geborgten Wichs, die in die Heldenwirklichkeit ein Stückchen Theater trugen, nicht verloren gingen. Aber warum befand ich mich denn bei meinem Alter von 19 Jahren nicht mit ernsten Waffen unter denen, die man da festlich begrüßte? Je nun, ich war bei aller meiner Begeisterung körperlich zu schwach gewesen, um als Kriegs­freiwilliger eintreten zu können. Noch als ich mich 1873 bei den Leibgrenadieren meldete, wurde ich zurückgestellt und im nächsten Jahre wegen „Schwäche“ – das Wort gefiel mir gar nicht – ganz ausgemustert. Der Soldatentraum meiner Kindheit, der mit hölzernem Schwert und Spieß in Meißen bei den Zügen gegen die überelbischen Völker begonnen hatte, war in einem eisernen Zeitalter ausgeträumt. Die harten Erfahrungen meines Freundes Hänsel hatten mich ohnehin ernüchtert.

Ein schöner Nachklang der Siegesfeiern des Jahres 1871 war es, als am 18. Oktober das vor der Kreuzschule errichtete Standbild Theodor Körners enthüllt wurde. Ich befand mich dabei unter den Vertretern unserer Schule. Ein von mir [44] als Klassenaufgabe geliefertes Gedicht, das ich bei der Schul­feier mit dem ganzen Hochgefühl eines Festredners vertrug, schloß mit den Worten:

So steht er da, ein Abbild deutscher Jugend,
und schaut beglückt des neuen Reiches Glanz,
nicht mehr des Kampfes wilde Bahnen suchend,
der ihm verlieh des Ruhmes Eichenkranz;
und fröhlich schart sich um ihn Deutschlands Jugend
zu heitrer Lust nach kühnem Waffentanz.
„Denn was berauscht die Leier vorgesungen,
das hat des Schwertes freie Tat errungen.“

Mein Rektor wollte das Gedicht in eine von ihm geplante Sammlung von Musteraufsätzen aufnehmen. Diese ist aber nie erschienen; vielleicht hat der dafür ausersehene Verleger vor meinen fünfzehn Stanzen einen solchen Schreck bekommen, daß er das Unternehmen im Stiche ließ. Die Handschrift fand ein ehrenvolles Begräbnis im Körnermuseum.

Die Zeitverhältnisse waren ganz dazu angetan, meine Anteilnahme am politischen Leben immer reger zu gestalten. Eifriges Zeitungslesen weihte mich in die Bestrebungen der Parteien ein. Im Winter 1871/72 ging ich zwischen Mittags­tisch und Nachmittagsunterricht oft nicht nach Hause, sondern in den Zuhörerraum des Landtags. Dort habe ich einen großen Teil der Verhandlungen über die neuen sächsischen Verwaltungsgesetze mit angehört. Ich fühle mich dabei besonders durch die maßvollen und formvollendeten Reden des nationalliberalen Führers Professor Karl Biedermann aus Leipzig gefesselt, der mir seitdem ein Vorbild für künftige politische Betätigung war. Zwei Jahrzehnte später fand ich Gelegenheit, diesem im Parteikampfe viel angefeindeten Politiker, der sich stets als ein charaktervoller Vaterlands­freund bewährt hatte, meine Verehrung durch die Tat zu beweisen, und erlebte die Freude, daß mir der sonst so zurück­haltende Mann noch im hohen Alter seine Freundschaft [45] antrug. – Ich dachte in den letzten Schuljahren ernstlich daran, mich für politische Tätigkeit vorzubereiten, und besuchte sogar die Vorträge des Schauspielers Bürck über die Kunst der Rede – der alte Demosthenes, wie er am Meeresstrande im Kampfe mit Sturm- und Wogengebraus die Gewalt seiner Stimme übt, spukte mir im Kopfe. Auch in die Schule schlug meine Begeisterung für Vaterland und Freiheit ihre Wellen. Schon in einer Sekundanerarbeit über die Zunge finde ich den Satz: „Patrioten haben sehr oft die Kühnheit, sich der ihnen von der Natur verliehenen Gabe nach dem Drange ihres Herzens zu bedienen, teuer bezahlen müssen, da es in den meisten mit Regenten (von Gottes Gnaden) begabten Staaten streng verpönt war und teilweise noch ist, über staatliche Ver­hältnisse die Wahrheit offen auszusprechen.“ – Bei der freien Wahl des Gegenstandes zu einem Aufsatze schrieb ich als Oberprimaner über „Die notwendigen Grundlagen der repu­blikanischen Staatsverfassung“ und stellte mich dabei auf den Standpunkt, daß die Republik die natürlichste und vernunftgemäßeste aller staatlichen Verfassungen sei, daß sie aber nur da bestehen könne, wo die Bürger die dazu erforderliche hohe politische und sittliche Reife besäßen. Der Rektor gab mir den Aufsatz, mit einer 1 versehen, ernst und schweigend zurück.

Der Reifeprüfung zu Ostern 1873 sah ich ohne Bangen entgegen. Die deutsche Aufgabe „Schillers Don Carlos, ein Gemälde des Despotismus“ verschaffte mir neue Gelegenheit, meinen Tyrannenhaß auszutoben. Aus tiefster Überzeugung sagte ich am Schlusse: „Schon erkennt keine gebildete Nation mehr den angemaßten göttlichen Ursprung der Kronen an, die Fürsten sind ihres übermenschlichen Nimbus beraubt und der Begriff Untertan ist aus dem Staatsleben verschwunden. Aber noch bewahren die Fürsten viel natur- und vernunft­widrige Vorurteile und Vorrechte, die nur dadurch fallen können, daß ein jeder an der religiösen und politischen Auf­klärung [46] der Geister nach Kräften arbeitet und dem Ideale eines freiheitlichen Gemeinwesens zustrebt. Die Weisesten werden alsdann Könige sein und ihren Stolz darein sehen, als Bürger unter Bürgern zu wandeln und für deren Wohl zu arbeiten, und die Menschheit wird sich des Friedens er­freuen und wirken im Sonnenglanze der Gesittung und der Freiheit.“ O du harmloser Prophet!

Etwas bescheidener trat ich an die optischen, trigono­metrischen und stereometrischen Aufgaben heran, die mir recht harte Nüsse zu knacken gaben. Aber ich bestand die Prüfung zu allseitiger Befriedigung. Die Abschätzung meiner Leistungen brachte mir für Religionslehre, deutsche Sprache und Literatur­geschichte, lateinische, französische und englische Sprache, Geschichte, Geographie, Mineralogie, Chemie, Zeichnen und Gesang die 1, für Botanik, Zoologie, Physik, Trigonometrie, analytische Geometrie, Algebra und Arithmetik die 2, für Planimetrie und Stereometrie die 2 b; eine Gesamtzensur wurde nicht erteilt. So bot mein Entlassungszeugnis kein unerfreuliches Bild. Hätte ich den Spieß umdrehen und den Lehrern nach meiner Wertschätzung ihres Wirkens Zensuren geben wollen, so würde Deutsch, Mathematik und Natur­wissenschaft die 1, Englisch, Französisch und Geographie die 2, Lateinisch und Geschichte die 3 und – Gott sei’s ge­klagt – Religionslehre die 4 erhalten haben.

Die Schule hatte mir viel Gunst und Förderung erwiesen und mich, trotz mancher Unzulänglichkeiten, mit einer lebensfrischen Bildung ausgerüstet, so daß ich im Gefühl aufrichtiger Dankbarkeit von ihr schied. Der Hauptgewinn blieb für mich immer der Unterricht beim trefflichen Rektor Niemeyer: er hat mich in die Schönheit und den Reichtum des Besten, was wir besitzen, unserer Muttersprache und Dichtung, ein­geführt und mir an Stelle meines altmodischen Meißner Kanzlei­stils ein erträgliches Deutsch beigebracht. Als ich ihm später meine erste wissenschaftliche Arbeit zusandte, fühlte er sich für [47] die an mich gewendete Mühe reichlich belohnt und schüttete sein treues Lehrerherz in dem Wunsche aus: Alle guten Geister mögen mit Ihnen sein! –

Die Abschiedsrede, die ich zu halten hatte, bewegte sich zwar in hohen Tönen, aber ohne die Wehmut und den Jubel über das Scheiden vom Schulleben, denn für mich bedeutete sie noch nicht dessen Ende. Schon seit Jahresfrist hatte mir mein Bruder die Vorbereitung auf das ersehnte Universitätsstudium gestattet und ermöglicht. Ich nahm während meines Oberprimanerjahres bei einem unserer jüngeren Lehrer, dem feinsinnigen Kandidaten Büsching, Privatunterricht im Grie­chischen. Dabei lernte ich nun auch den bewußten Xenophon kennen und ließ mir von ihm selbst den Verlauf des Zuges der Zehn­tausend erzählen. Es war wohl nicht ganz leicht, neben der Schule gleichzeitig noch Privatstunden zu nehmen und zu geben. „Doch Ordnung lehrt euch Zeit gewinnen“ sagt Mephistopheles zum Schüler, und da es mir überdies nicht an der Lust fehlte, ward es mir auch nicht zur Last. Während des Sommers 1873 feilschte ich mit Virgil, Horaz und Tacitus, mit Homer, Thukydides, Demosthenes und Plato unver­drossen herum; die alten ehrwürdigen Gedankenschmiede aus Griechenland machten manchmal höllisch ernste Gesichter, wenn ich ihnen ihren großen Vorrat von unregelmäßigen Verben und anderen Kopfschrauben nicht glatt abkaufen wollte. Ich hatte die Meinigen in dem Glauben gelassen, daß ich die Gymnasialprüfung erst nächste Ostern ablegen würde, meldete mich aber insgeheim schon zur Michaelis­prüfung bei der Kreuzschule. Es war ein etwas gewagtes Spiel, innerhalb eines halben Jahres zwei Reifeprüfungen abzulegen, aber das Glück blieb mir hold. Trotz der Kürze der Vorbereitung und der Unbekanntschaft mit den An­forderungen der prüfenden Lehrer kam ich leidlich durch und trug am 19. September mein Zeugnis mit einer freundlichen 2 vergnügt vorbei an Körners Heldengestalt, die auch so eine [48] inhaltschwere Rolle in der Hand zu halten scheint. Nun habt des Lehrlings Dank und lebt für immer wohl, all’ ihr gestrengen Meister von der Schul’!


Hinaus in die Ferne.

Die glückliche Mauleselzeit brachte nach Jahren unaus­gesetzter Arbeit Tage beschaulichen Ausruhens. Da platzte wie eine Leuchtrakete der plötzliche Entschluß meines Schwagers Ernst Teichert hinein, die Wiener Weltausstellung zu besuchen und mich als Reisemarschall mitzunehmen. Er hatte kurz vorher seine unter schweren Mühen und Sorgen errichtete Ofenfabrik vorteilhaft an eine Aktiengesellschaft verkauft, die noch jetzt in Blüte steht, und durfte sich eine zugleich der Be­lehrung dienende Erholungsreise wohl gönnen. Ich erhielt seine ehrenvolle Berufung am Nachmittag des 7. Oktober und hatte kaum Zeit, mir über die einzuschlagende Himmels­richtung klar zu werden, den roten Bädecker anzuschaffen und die nötigen Guldenzettel einzuwechseln, denn schon am andern Morgen ging es fort. Abends in Prag angekommen, stiegen wir selbstverständlich im Hotel de Saxe ab. Daß wir aber von unserm Sachsen schon weit entfernt waren, merkten wir alsbald an den uns überall umschwirrenden fremden Sprachlauten. Nur wenn einer etwas von uns wünschte, wie der am frühen Morgen mit der Sammelbüchse auf unserem Zimmer er­scheinende barmherzige Bruder, hörten wir deutsch sprechen, aber wahrlich ein Deutsch zum Erbarmen! Der Himmel schüttete den ganzen Tag seinen nassen Segen auf die unge­zogene Tochter Roms herab, aber in unserer frischen Wißbegier ließen wir uns nicht abhalten, die palästereichen Straßen zu durchwandern, den Dom und den malerischen alten Juden­kirchhof zu besuchen und vor allem zum Hradschin hinaufzusteigen. In den Sälen des mächtigen Schlosses tauchte

[Bild]

Ernst Teichert

 

Rektor Prof. Dr. Niemeyer

[-] [49] eine Fülle von Gesichtern der Vergangenheit vor meinem inneren Auge auf, und in der Landtagsstube stand zum greifen lebendig das Bild vor mir, das mir von Kindheit her aus Flathes Dreißigjährigem Krieg in der Erinnerung lebte: wie an einem schönen Maitage des Jahres 1618 die kaiserlichen Statthalter samt ihrem Geheimschreiber nach altböhmischer Sitte zum Fenster hinausgeworfen wurden. Ich fand die Handlungsweise der tschechischen Herren ebenso verständlich wie der radebrechende Fremdenführer und wunderte mich nur, daß der Kehrichthaufen unten schon weggeräumt war. Die eigenartigen Eindrücke der alten Hussitenstadt auf meinen Gesichts- und Geschichtssinn waren nachhaltig.

Nach einer Nachtfahrt im vollbesetzten Wagen, einem mir bisher unbekannten Vergnügen, das mir tiefe Einblicke in die selbstlose Natur des Menschen gewährte, kamen wir glücklich in der vielgerühmten Kaiserstadt an. Da alle Gasthöfe überfüllt waren, mieteten wir uns bei einem hilfreichen Oberamtskontrolleur auf der Schützengasse im dritten Bezirk ein. Ja, der Herr Oberamtskontrolleur, das war ein netter Mann! Er räumte uns bereitwillig seine gute Stube ein und stand uns mit Frau und Tochter stets gehorsamst zur Ver­fügung. Wenn er morgens mit dem Wunsche, daß die gnädigen Herren wohl geruht haben möchten, den Kopf zur Tür hereinsteckte, gaben seine lustig blinzelnden Äuglein, die vollen Backen und dazwischen eine in warmem Rot erglühende Kupfernase, die er wie einen kleinen Dampfkessel aus der Westentasche mit Heizung versorgte, ein überaus freundliches Bild. Die Unter­haltung mit diesem schmiegsamen Mitteleuropäer erforderte meine ganze Selbstbeherrschung, denn sein wienerisches Hoch­deutsch wirkte auf meine ungeübten Mulusohren so unwider­stehlich, daß ich mich auf die Lippen beißen mußte, um nicht laut herauszuplatzen.

Mein Schwager Ernst, der zwanzig Jahre älter als ich, sehr lernbegierig und in allen Dingen gewissenhaft war, nahm es [50] mit der Besichtigung der Ausstellung wirklich ernst. Jeden Tag wurde eine Abteilung der Industriehallen eingehend durchgenommen. Die Erklärungen, die ich meinem Reise­gönner für sein gutes Geld lieferte, mögen nicht immer auf der Höhe der Wissenschaft gestanden haben: so glaubte ich die Aufschrift Romania, die in goldenen Riesenbuchstaben über einer durch farbenreiche Volkstrachten auffallenden Abteilung prangte, auf die Romagna im Kirchenstaat (Romandiola!) statt auf Rumänien deuten zu müssen, ein Schnitzer, der mich dann im stillen noch jahrelang geärgert hat. Auf mich wirkte hauptsächlich das Gesamtbild der Baulichkeiten und der Auf­stellung, besonders der ungeheuren Rotunde, daneben fesselten mich nur einige Sonderabteilungen, namentlich die Halle der Zeitungspresse, wo ich nicht genug staunen konnte, wie aus der Druckmaschine die Zeitungen fertiggefaltet herauskamen. So leicht hatte ich mir die Herstellung der öffentlichen Meinung nicht gedacht. Bei aller Ermüdung, die mit der sechstägigen Besichtigung der Ausstellung verbunden war, schätzte man sich doch glücklich, ein so gewaltiges Kulturwerk gesehen zu haben. Für Erquickung durch Speise und Trank, freilich nicht immer von der besten Sorte, war in den zahlreichen Wirtschaften des Ausstellungsplatzes ausreichend gesorgt. Um einen Gulden bekam man etwa soviel wie bei uns für eine Mark. Wir fühlten uns mit unserem schönen Goldstücken über das öster­reichische Papiergeldelend hoch erhaben, waren doch bei uns nur die Silbergulden zugelassen. Als ich einen solchen in einer Tyroler Weinstube in Zahlung gab, lehnte die Kellnerin seine Annahme mit dem Bemerken ab, dieses Geld kenne sie nicht! Das kam mir sehr – österreichisch vor.

Die ausstellungsfreie Zeit nutzten wir gut aus, freilich nicht zum Besuche der Museen, denn das ging über unsere Kräfte. Nur in die Schatzkammer der Hofburg zur Kaiser­krone des alten deutschen Reiches trieb mich mein Sinn für die Geschichte. Weihevolle Augenblicke verbrachten wir im [51] herrlichen Stephansdom, die Aussicht vom Turm erregte unser Entzücken. Im Karltheater erfuhren wir bei dem Versuche, uns an einer lustigen Posse zu vergnügen, eine arge Ent­täuschung, so daß wir das fade französische Stück, das von der Masse doch lebhaft beklatscht wurde, entrüstet schon vor dem Ende verließen. Dagegen hätte der Besuch des Troubadour im prachtvollen Opernhause gewiß einen Genuß geboten, wenn nicht der Aufenthalt im überfüllten Stehparkett eine Qual gewesen wäre; da erstickte all unsere Kunstbegeisterung in Dampf und Dunst. Große Erwartungen glaubten wir auf einem „Wiener Maskenball“ im Kolosseum zu Hietzing setzen zu dürfen, fanden aber dort nur ein Gewühl Tausender von Fremden mit einigen gemieteten Masken untermischt. Die angekündigte Pantomime, ein uns noch unbekanntes Spiel, auf das es uns besonders ankam, wurde erst in den Nacht­stunden aufgeführt. Nachher war keine Fahrgelegenheit mehr aufzutreiben, so daß wir den zwei Stunden langen Weg nach unserer Wohnung zu Fuß machen mußten. Wie einst Theseus den Ariadnefaden, so benutzten wir als Richtschnur die Tramwaygleise, um durch das menschenleere finstere Labyrinth der Großstadtgassen zu unserer Wohnstätte zu gelangen. In der dritten Morgenstunde waren wir heraus, freilich nicht mit so berechtigtem Selbstgefühl wie der Griechenheld, denn vertilgt hatten wir weiter nichts Schädliches, als etliche Glas schweren Dreherschen Bieres. Totmüde warfen wir uns aufs Lager, wo uns der verwunderte Gastfreund zur gewohnten Frühstückszeit noch in tiefem Schlafe fand. – Ein Ausflug nach Schönbrunn mit seinem ausgedehnten Schloßbau und der schönen Aussicht auf der Terrasse Gloriette war lohnend genug, um ihn zwei Tage darauf zu wiederholen. Besonders fesselte uns dort der reich­besetzte Tiergarten; hier wurden in behaglichem Freilichtgefängnis alle die wilden Wappentiere der von den Habs­burgern im Laufe der Jahrhunderte eingefangenen Völker­schaften an Fügsamkeit und Sauberkeit gewöhnt. Sehr vergnüglich [52] waren mehrere Besuche im Esterhazykeller, einer dunkeln Spelunke, wo ein Glas guter süßer Ruster für 23 Kreuzer und zwei warme Würstchen mit Brot für 10 Kreuzer verabreicht wurden. Dort sorgte ein Gemisch von Leuten aller Stände immer für Unterhaltung. Als ich aber einmal an eine im Kreise herumstehende fröhliche Gruppe herantrat und der Spaß­macher in der Mitte sich als ein lustiger Fußbekleidungs­künstler aus – Lommatzsch entpuppte, wich ich erschrocken zurück, in der Befürchtung, der im unverfälschten Meißnisch sich ergehende benebelte Daleminzier könne mich als Landsmann erkennen und begrüßen. Trotz des Schleiers, den der ungeheure Fremdenbesuch über alle öffentlichen Orte legte, merkte man doch hie und da hindurch, daß es nur Eine Kaiserstadt und nur Ein Wien gab. Vaterländische Gefühle wurden in uns wach, als wir an dem geschichtlich so bedeutungsvollen 18. Oktober auf der Ringstraße unsern alten Kaiser Wilhelm zusammen mit dem Kaiser Franz Joseph im Vorbeifahren begrüßen konnten. Man war erfreut über die ersten Ansätze zu einem bundesbrüderlichen Verhältnis. Wer vermochte zu ahnen, daß es dereinst unserem Vaterlande zum Verhängnis werden würde!

Am nächsten Tage labten wir uns im Römischen Bade und lernten dort vorzügliche, bei uns unbekannte Einrichtungen von heißen und kalten Bädern und ein Treiben kennen, wie es wohl ähnlich in den Badeanstalten des alten Rom geherrscht haben mag. Hier schüttelten wir den Wiener Staub von unseren Füßen und rüsteten uns zu einem Abstecher nach Budapest. Eine siebenstündige, fast ununterbrochene Schnell­zugsfahrt führte uns durch weite Ebenen, die mit ihren spär­lichen Dörfern und den großen Viehherden ein fremdartig wirkendes Bild schwach bevölkerten Landes darboten. Abends in Pest angekommen, stiegen wir im Grand Hôtel Hungaria am Donaukai ab. Beim Nachtessen wurden wir stutzig: daß man uns zum Wein die Wasserflasche hinsetzte, fanden wir [53] als ehrliebende Söhne eines Weingaues verwerflich und aller Lebensart seit Erzvater Noah widersprechend. Welch ein überraschender Anblick aber, als wir am anderen Morgen aus dem Hause traten: um uns herum das bunte Treiben eines Wochenmarktes mit allerlei fremdartigen bäuerlichen Ge­stalten und Landeserzeugnissen, zu Füßen der von Dampfern und Kähnen belebte breite Strom, drüben das freundliche Städtchen Ofen, oben das mächtige Schloß und daneben der hohe befestigte Blocksberg. Ein Rundgang zeigte uns ein merkwürdiges Gemisch von unbedeutender Landstadt und aufstrebender Großstadt, wenige hervorragende Gebäude und viele schlichte Häuschen mit auffälligen bunten Bildern an den Läden, die auf keinen hohen Bildungsgrad von Käufern und Verkäufern hindeuteten, aber die Straßen schon asphaltiert und von einer geschäftigen Menge durchflutet. Im Gegensatze zu Prag berührte es angenehm, daß die Angehörigen der oberen Stände fast durchweg deutsch verstanden und uns höflich in unserer Sprache antworteten, dennoch hatte ich den Eindruck, als ob diese stolzen Halbasiaten gegen uns als nächste Landsleute jenes streitbaren Heinrich, der ihnen die große Schlappe bei Merseburg beigebracht hatte, noch etwas ver­stimmt wären. Wir setzten auf einem kleinen Schraubendampfer über die grüne Donau, erquickten uns in dem gut eingerichteten Raitzenbad, fuhren mit der Drahtseilbahn auf den aussichtsreichen Schloßberg und kehrten über die Kettenbrücke nach Pest zurück. Ein Geschäftsfreund meines Schwagers hatte uns zu Tische geladen; ich lernte in ihm einen ungarischen Juden und in seiner Frau eine hübsche Tochter der Pußta kennen, die uns gastfreundlich empfing und uns ihr Volks­gericht, einen stark gepfefferten Gulasch, mit der angeborenen selbstbewußten Liebenswürdigkeit ihrer Rasse vorsetzte und rühmte.

So einigermaßen in ungarisches Wesen eingeweiht, traten wir nach zweitägigem Aufenthalte die Rückreise an; sie führte [54] uns von Wien auf genußreicher, prächtige Gebirgsbilder bietender Fahrt über den Semmering nach Graz. Der Auf­enthalt in der steirischen Hauptstadt war ein sonniger Tag ungetrübten Genießens. Die Spaziergänge im schönen Stadtpark gewährten Erholung nach dem Lärm des großstädtischen Getriebes und dem Gerassel der Schnellzüge, und vom Schloß­berge bot sich eine entzückende Rundsicht auf eine Landschaft, wie ich sie in solcher Großartigkeit bis dahin nicht gekannt. Abends sahen wir im Stadttheater eine Operette „Karneval in Rom“; sie brachte einen hübschen Maskenzug auf die Bühne, mit komischen Tiergestalten, die nach dem Ende hin immer kleiner wurden, als Schlußstück ein Kücken, das die Eierschalen noch mitschleppte. Das belustigte meinen in Wien mißtrauisch gewordenen Schwager so, daß er sich mit meinen Theater­veranstaltungen völlig aussöhnte. Auf der Weiterfahrt über Marburg, Villach und Franzensfeste, verließ uns das Wetter­glück, in Tyrol regnete es in Strömen und auf dem Brenner sahen wir uns in dichtes Schneegestöber eingehüllt. So ent­schlossen wir uns mit Bedauern, den Besuch von Innsbruck, wo ich meine Kindheitserinnerungen an Andreas Hofer aufzufrischen gedachte, fallen zu lassen, und fuhren bis München durch. Hier gab es zwei Tage lang wieder tüchtige Arbeit, um auch nur die wichtigsten Sehenswürdigkeiten flüchtig kennenzulernen: prächtige öffentliche Gebäude, stimmungs­volle Kirchen, Museen mit unermeßlichen Kunstschätzen, im Hoftheater eine glänzende Aufführung der Hugenotten und nicht zuletzt das Hofbräuhaus, wo wir aus innerster feucht­fröhlicher Überzeugung das Bundesverhältnis mit Bayern fester knüpften. Nur wunderten wir uns ein wenig über die in dieser königlichen Bierhöhle herrschende eigenartige Sauber­keit, vermieden aber uns an Ort und Stelle darüber auszusprechen, weil wir unsere heilen Knochen noch für die Heim­fahrt brauchten. Dann kam als prachtvolles Schlußstück der Reise das ehrwürdige Nürnberg, Albrecht Dürers und Hans [55] Sachsens hochgelobte Stadt. Mit ihren malerischen Straßen und der noch fast unberührten mittelalterlichen Befestigung machte sie auf mich einen überwältigenden Eindruck, vertieft durch den Besuch des an deutschen Altertümern überreichen Germanischen Museums. Hier gewann das, was ich von deutscher Geschichte wußte, Blut und Leben, und die Bilder, die mir bald nachher im Universitätsunterricht von deutschem Städtewesen vorgeführt wurden, fanden auf diesem Hinter­grunde erst das richtige Verständnis. Ein Stündchen im „Bratwurstglöcklein“ brachte unserem Unternehmen das Abschieds­geläut. Am 30. Oktober trafen wir wohlbehalten wieder in Meißen ein.

Das Erlebnis hatte für mich ungefähr die gleiche Be­deutung, wie wenn in früheren Jahrhunderten hochgeborene Jünglinge nach vollendeter Ausbildung auf die große „Kavalier­tour“ gingen, nur daß ich nicht mit einem gelehrten Hofmeister, sondern einem einfachen Töpfermeister durch die Länder zog und im befreienden Gefühle meines Niedriggeborenseins mich damit begnügen durfte, mir die beengenden Mauern der Fürstenschlösser von außen anzusehen. Was ich von der schönen Reise behielt, war nicht bloß die angenehme Er­innerung an Genüsse von Auge, Ohr und Zunge, sondern auch eine wertvolle Erweiterung meines Gesichtskreises, lebendige Anschauung von fremden Ländern und ein erhebender Eindruck von alter deutscher Städtekultur. So ging ich nun als weit­gereister Mann, noch dazu ausgestattet mit einer ansehnlichen Studienbeihilfe meines Schwagers, auf die Universität nach Leipzig, damals die größte und bedeutendste unter ihren deutschen Schwestern.


An den Brüsten der Wissenschaft.

Nun sei gegrüßt, du freie Wissenschaft! Lichtspenderin im Dunkel der Vorzeit, Wahrheitskünderin vom Leben und [56] Schicksal der Völker, vom Denken und Tun ihrer Großen, vom Werden und Vergehen ihrer Staaten, Lehrerin ewiger Menschheitsgesetze und Hüterin unvergänglicher Geistesschätze, Trägerin geheimer Kräfte zur Veredelung des irdischen Daseins – heilige Wissenschaft, sei mir aus Herzensgrund gegrüßt!

Ich schwelgte im Sonnenschein freudiger Erwartung. Mein Vorsatz war, Geschichte zu studieren. Soweit wußte ich, was ich wollte, dagegen ließ ich es noch dahingestellt sein, welchen Beruf ich später ergreifen würde. Jeder für seine Wissenschaft begeisterte junge Mann pflegt die Laufbahn des akademischen Lehrers für besonders erstrebenswert zu halten, und auch bei mir stand dieses hohe Ziel, obgleich ich wußte, daß es in der Regel nur Goldsöhnen oder Glückspilzen er­reichbar ist, im nebelhaften Hintergrunde. Nicht minder anziehend erschien mir die Tätigkeit des Archiv- und Biblio­theksbeamten, während meine politischen Neigungen mich auf den Beruf des Tagesschriftstellers hinwiesen. In stiller Studierstube die Zusammenhänge des Weltgeschehens zu ergründen und die Ergebnisse der Forschung auf dem Katheder vor gespannt lauschenden Jünglingen auszubreiten – oder im dämmerigen Archivgewölbe vergilbte Schriften zu durch­blättern, aus ihnen die Geister der Jahrhunderte wachzurufen und sie der Mitwelt vorzuführen – oder im luftigen, bis an die Decke mit Büchern gefüllten Bibliotheksaale ordnend zu walten und Wißbegierigen ratend und helfend von den Schätzen der Wissenschaft mitzuteilen – oder auch die eigenen Ansichten über politische Vorgänge in einer großen Zeitung nieder­zulegen und damit auf die Leserschaft führend einzuwirken – was für lockende Bilder von einer schaffensfrohen Zukunft mußten solche Möglichkeiten in meiner Seele hervorzaubern.

Es war Eile nötig, denn bei meiner Rückkehr von der Reise hatten die Vorlesungen schon begonnen. Am 4. No­vember 1873 wurde ich immatrikuliert und vom Rektor durch [57] Handschlag auf die Gesetze der Universität feierlich verpflichtet. Ich ließ mich als studiosus historiae et philologiae einschreiben. Zwar brachte ich dem Berufe des Gymnasial­lehrers wenig Neigung entgegen. Ich hatte auf der Schule neben dem Weizen zuviel leeres Stroh bearbeiten sehen, als daß ich mir von solcher Handhabung des Dreschflegels große Freude versprechen konnte. Aber ich glaubte mir doch für den Notfall auch die Wahl dieser viel Geduld und Entsagung fordernden Tätigkeit offenhalten zu müssen. Mit Feuereifer stürzte ich mich in den breiten Strom der historischen und philologischen Wissenschaften, unbekümmert, wohin er mich führen würde.

Ich hatte Pleiße-Athen schon zwei Jahre vorher gesehen, ohne freilich von den dort aufgespeicherten Reichtümern des Geistes etwas zu bemerken. Damals besuchte ich in einer Ferienwoche meine Schwester Sophie, die in dem Vororte Neuschönefeld, nichtamtlich auch Neupiependorf genannt, verheiratet war. Ich fuhr durch das mir bereits bekannte Triebischtal auf der Eisenbahn und wollte den Weg von Nossen bis Leipzig zu Fuß machen, um Land und Leute kennenzulernen. Aber auf der Wanderung durch das liebliche Muldental sah ich mich schon in Döbeln durch Regenwetter gezwungen, Schusters Rappen abzusatteln und mich dem rollenden Rade wieder anzuvertrauen. Diesmal ging die Reise glatter vonstatten. Einen Unterschlupf fand ich schnell. Mein Freund, der ehemalige Primus der Meißner Fürstenschule, hatte mich aufgefordert, seine „Bude“ in einem Eckhause an der Dörrien- und Querstraße mit ihm zu teilen. Das hätte eine erfolgreiche Zeit gemeinsamen Strebens geben können, aber es kam anders. Der Lerneifer des Afraners war bereits abgeebbt, er sog nur noch schwach an den Brüsten der Wissenschaft, aber um so kräftiger am Bierglase. Den Abend und die halbe Nacht verbrachte er meist in einer Wirtschaft auf der Universitätsstraße und glaubte damit wohl genügende Anhänglichkeit an [58] die nahegelegene alma mater zu bekunden. Der Scherz oder Wortstreit mit einigen trinkfesten Philistern und examenscheuen Studenten endete dort am Stammtische gewöhnlich in einem von Versneckereien begleiteten Zutrinken aus einem großen Glasstiefel. Kurze Zeit fand ich daran Vergnügen, bald aber blieb ich weg und fühlte mich unliebsam aus Morpheus Armen aufgeschreckt, wenn der Stubengenosse lange nach Mitternacht polternd nach Hause kam, um dann den Vor­mittag zu verschlafen. Ich mietete mir daher, um ungestört zu sein, ein eigenes Zimmer auf der Blumengasse in der Reudnitzer Vorstadt. Meinen Freund, der mir einst in Meißen ein nachahmenswertes Vorbild gewesen war, verlor ich von da an aus den Augen. Er hat sich von seiner ungeregelten Lebensweise schwer aufzuraffen vermocht, trotz seiner Be­gabung nur ein minderwertiges Befähigungszeugnis erlangt und soll als Lehrer an der deutschen Schule in Konstantinopel ein frühes Türkengrab gefunden haben.

Bei der starken Verlockung zum Wirtshausbesuche kam mir ein Anlaß zu anhaltender Abendbeschäftigung sehr zustatten. Der akademische Senat schrieb Ende Dezember 1873 mit viermonatiger Frist eine Preisbewerbung um das Kliensche Konstitutionsstipendium aus und verlangte eine Arbeit über „den Sozialismus J. G. Fichtes und dessen Unterschied von dem heute gewöhnlichen Sozialismus“. Aufgabe und Preis lockten mich und ich packte die Sache sogleich an. Das ein­gehende Studium der Werke Fichtes verschaffte mir ein fesselndes Bild von den eigenartigen politischen Anschauungen des großen Idealisten, den materialistischen Sozialismus der Neuzeit lernte ich aus Flugschriften und Versammlungsreden kennen. Sehr anregend waren in dieser Hinsicht die Vorträge des Landwirtschaftsprofessors Birnbaum über „Tagesfragen“. Damit verbanden sich Sprachabende im Saale der Zentral­halle, an denen Hunderte von Studenten aus allen Parteien in parlamentarischer Form ihre Meinungen über den vorgetragenen [59] Stoff mit jugendlicher Lebhaftigkeit austauschten. Aber bald machte ein Polizeiverbot diesem politischen Ver­gnügen ein Ende, da es bei dem Eifer und der Zungenfertigkeit der meist russischen und jüdischen Sozialdemokraten schließlich mehr der Förderung als der beabsichtigten Bekämpfung des Sozialismus diente. Die Vertiefung in den Gegenstand der Preisaufgabe brachte für einen politisch noch nicht ausgereiften jungen Mann gewiß die Gefahr mit sich, daß er für die eine oder die andere Richtung leidenschaftlich Partei ergreifen würde. Während die Undurchführbarkeit der Gedanken Fichtes auf der Hand lag, überzeugte ich mich, daß der neu­zeitliche Sozialismus neben vielen Ausgeburten des Klassenhasses auch manche berechtigte Forderungen aufstellte und daß die Besitzenden durch völlig ablehnende Haltung ihnen gegen­über die vorhandenen Gegensätze nur verschlimmern würden. Ich habe demgemäß an einer vermittelnden Richtung auch später festgehalten, als ich aus den Stürmen demokratischer Ansichten in den ruhigen Hafen gemäßigt liberaler Gesinnung eingelaufen war. Meine Arbeit betonte am Schlusse die Über­zeugung von der Wahrheit des Fichteschen Ausspruchs, daß nur auf der zweckmäßigen Wechselwirkung aller Stände die wahre Verbesserung des Menschengeschlechts beruhe. Ich reichte die Abhandlung unter dem Kennwort multa petentibus desunt multa ein und erhielt den Preis von 50 Talern zugesprochen, während ein Student der Rechte mit einem Nebenpreise von 40 Talern bedacht und eine dritte Arbeit für un­genügend erklärt wurde.

Dieser Erfolg war gewiß eine Ermunterung meiner politischen Neigungen, aber bei der Auswahl der Vorlesungen blieb doch die Erwägung maßgebend, daß ich mich möglicher­weise würde auf den Lehrerberuf einrichten müssen. Die philologischen Fächer standen daher zunächst im Vorder­grund. Griechische Grammatik und Literaturgeschichte hörte ich bei dem gründlichen und klaren, aber schulmeisterlich langweiligen [60] Georg Curtius. Römische Sprache und Dichtung wurde in packender Weise von dem berühmten Altmeister Friedrich Ritschl behandelt, der bisweilen, sobald er unter dem staubaufwirbelnden Begrüßungsgetrampel der Hörer auf schlürfenden Hausschuhen das Katheder erstiegen hatte, ein wahres Feuerwerk von geistreichen und witzigen Bemer­kungen auf sie niederprasseln ließ. In der deutschen Sprach­lehre des lebhaften Friedrich Zarncke, der sich als Rektor in den Kriegsjahren durch seinen vaterländischen Schwung die begeisterte Verehrung der Studentenschaft erworben hatte, fand ich anheimelnde Anklänge an die Lehrweise meines früheren Schulrektors wieder. Für mein Lieblingsfach hielt ich mich an Georg[WS 1] Voigt, den feinsinnigen Schilderer der Wiederbelebung des klassischen Altertums. Seine durch­dachten und formschönen Vorlesungen über griechische, römische und deutsche Geschichte, bei denen seine klangvolle Stimme den schweren ostpreußischen Tonfall siegreich überwand, bereiteten mir nach dem auf der Schule überstandenen freud­losen Geschichtsunterrichte wahrhaften Genuß. In seiner historischen Gesellschaft trat ich dem bei aller vornehmen Zurückhaltung höchst liebenswürdigen Gelehrten persönlich näher; noch zehn Jahre nachher hat er in seiner Vorlesung von der damals erschienenen Dresdner Verfassungsgeschichte „seines Freundes Richter“ gesprochen. Von den Aufgaben, die er seinen Schülern für Übungsarbeiten stellte, wählte ich eine aus der heimatlichen Geschichte: über die von den Landes­fürsten bestrittene Reichsstandschaft der Bischöfe von Meißen. Die Arbeit ist später gedruckt erschienen, ohne freilich die Anfängerschaft ihres Verfassers verleugnen zu können. Aber ich glaubte wenigstens meine Vaterstadt von den beanspruchten Fürstenrechten des Krummstabes endgültig befreit zu haben. Selbstverständlich besuchte ich die Vorlesungen des ehrwürdigen, aber sehr trockenen Weltweisen Wilhelm Drobisch über Logik und Psychologie. Goethe erzählt, es sei ihm wunderlich vorgekommen, [61] daß er diejenigen Geistestätigkeiten, die er von Jugend auf mit der größten Bequemlichkeit verrichtete, in der Logik auseinanderzerren und gleichsam zerstören sollte, um ihren rechten Gebrauch einzusehen. Mir ging es dagegen wie dem Kinde, das sich meist nicht mit der Feststellung der bloßen Tatsache begnügt, sondern wissen will, warum das oder jenes so ist. Es machte mir Vergnügen zu erfahren, wieso ich denn bisweilen richtig gedacht hatte. Ich hielt daher selbst bei großer Hitze von 12–1 Uhr in Drobischs „Sommerlogik“ aus. Der junge Frankfurter Feuergeist war nicht einmal im Winter so standhaft gewesen. Als gegen Fastnacht beim Zuckerbäcker in der Nähe des Philosophieprofessors täglich gerade um die Stunde der Vorlesung die Kräpfel heiß aus der Pfanne kamen, verlor sich sein Kollegheft wie der Schnee im Frühjahr. Aber ich will mich nicht rühmen. In der Mittagsstunde war es kein Kraftstück pünktlich zu sein. Hätten die Vorlesungen, wie im 15. Jahrhundert, früh um 5 Uhr angefangen, wäre ich wohl auch anderswo als im Hörsaal zu finden gewesen.

In den Zwischenstunden entwickelte sich im ganzen Universitätsbau ein reges Treiben. Wie die Bienen von Blume zu Blume, so eilten die Studenten mit beflügelten Schritten von einem Lehrer zum andern, um ihm den Honig seines Wissens abzusaugen. Der stärkste Verkehr herrschte in den halbdunkeln, mit mittelalterlichen Mönchsbildern geschmückten Kreuzgängen des ehemaligen Paulinerklosters, wo am Schwarzen Brett die Professoren, bunt durcheinander auf breiten oder schmalen Zetteln Zeit, Ort und Gegenstand ihrer Vorlesungen an­gekündigt hatten. Daneben befand sich eine vielbesuchte Futter­stelle, an der man sich zur Frühstückszeit eine köstliche Lachs­- oder Schinkensemmel oder, bei bescheidenem Monatswechsel, ein dick mit Leberwurst belegtes Dreierbrot für billiges Geld erstehen konnte. Hier wandelten die Musensöhne mit vollen Backen umher, eifrig darauf bedacht, nach der Geistespflege auch die Leibesstärkung nicht zu kurz kommen zu lassen. Die [62] alten Heiligen an den Wänden schienen wenig erbaut von der hastigen Schmaußerei an diesem geweihten Orte, wo noch vor kaum vierhundert Jahren fromme Mönche sich in aller Ruhe eines maßvollen Fastens befleißigt hatten: sie wandten sich mit verzweifelten Geberden von dem weltlichen Treiben der neuen Klostergäste ab. Das Sprichwort: Plenus venter non studet libenter augenscheinlich Lügen strafend, strömten die Lern­begierigen dann hinaus auf den geräumigen Paulinerhof, von wo beim Glockenzeichen die Hörsäle im Bornerianum und im Konviktshause schnell zu erreichen waren, und ver­einigten sich in losen Gruppen zu lauter Unterhaltung, die zu einem tausendstimmigen Bienengesumme zusammenfloß. Nach zehn Minuten lebendigen Gewimmels war alles wie weggeblasen, erst nach Ablauf der Stunde geriet das Bienenvolk wieder in Bewegung. Zur Mittagszeit tauchten unter den Massen auf dem Hofe immer zahlreicher die bunten Mützen auf, von deren Trägern wohl manche bis in die Nacht hinein notwendig zu tun gehabt hatten und daher etwas spät auf­gestanden waren. Unter diesen gab es ein lebhaftes verbind­liches Grüßen, während sich die sogenannten Finken im Hutlüften, auch vor hohen Herren, nicht so eifrig betätigten. Das veranlaßte einmal den zum Rector magnificentissimus er­wählten König Albert bei seinem Besuche der Universität gegenüber dem ihn begleitenden Rector magnificus zu der verwunderten Frage, ob die denn Sperlinge unter den Hüten hätten?


Unter der blauen Mütze.

Während ich auf dem nach allen Richtungen durchfurchten Boden des Studiums noch etwas unsicher umherblickte, fand mein Trieb zur Geselligkeit bald festen Grund: ich wurde Pauliner. Schon seit Jahren war der Universitätssängerverein [63] zu St. Pauli das Ziel meiner Sehnsucht gewesen. An einem schönen Augusttage des Jahres 1871, als ich die Schulferien in Meißen verlebte, kam ich gegen Abend mit meinem Bruder August in die Wirtschaft zur Elbterrasse und sah in dem anmutig gelegenen Garten eine lange Kneiptafel aufgeschlagen, an der etwa dreißig Studenten mit hell­blauen Mützen ein lustiges Treiben entfalteten. Nach der Zahl der aufgereihten Flaschen zu urteilen, hatten sie dem schweren Meißner Wein schon fleißig zugesprochen. Da erhob sich ein älterer lebhafter Herr mit rötlich strahlendem Gesicht und dunklem Lockenhaar, klopfte und erzielte sogleich lautlose Stille. Nach der leichten Bewegung seiner Hand erklangen nun, erst leise, dann anschwellend und wieder verhallend, die Töne des herrlichen Adamschen Quintetts „Abend wird es wieder“ und erfüllten den Garten wie mit einem wonnigen Blütenduft, der sich hinaufschwang in die Wipfel der Bäume und über den Strom hinüber zu den Rebengeländen der Spaarberge. Es ward mir bei dem zarten, uns unverhofft entgegenströmenden Gesange unsagbar feierlich zumute, und als sie dann ihr Bannerlied, Perfalls „Noch ist die blühende goldene Zeit“, erklingen ließen, fühlte ich mich ganz in die jubelnde Stimmung der Sänger hineingerissen. Die diese zauberische Wirkung hervorbrachten, waren Pauliner, mit ihrem Direktor Dr. Hermann Langer, auf einer Vergnügungs­reise von Leipzig nach Dresden begriffen. Der Abend blieb mir unvergeßlich. Seitdem stand es bei mir fest, daß ich, wenn je mir das Glück des Universitätsbesuchs beschieden sein sollte, mich den Paulinern anschließen würde. Das erste Lied, das ich von ihnen gehört hatte, ist immer mein Lieblingslied geblieben.

Der Gesanglehrer der Realschule, der bärbeißige Kantor Müller, genannt Orpheus-Müller, wollte mir wohl, weil ich bei seinem Unterricht Ernst und Eifer zeigte; er freute sich über mein Vorhaben und nahm mich in den letzten Monaten meines [64] Aufenthaltes in Dresden unentgeltlich noch in gesangliche Bearbeitung. So vorbereitet, meldete ich mich sogleich nach meiner Ankunft in Leipzig beim Paulus zur Aufnahme­prüfung. Der Verein hatte seinen Übungsraum im Kreuzgange des Paulinums. In diesem düstern Gewölbe, das sich recht gut auch für Vemgerichtssitzungen geeignet hätte, thronte Langer feierlich vor dem Flügel, umgeben von dem ernst dreinschauenden Prüfungsausschusse. Zuerst wurden jedem einzeln Treffproben auferlegt, dann mußten vier Mann zusammentreten und ein ihnen aufgegebenes Quartett vom Blatte singen. Da mochten wohl einige von den Prüflingen gewalt­same Änderungen an dem Tonsatze vornehmen, ich wenigstens neigte von jeher zu solchen Eigenmächtigkeiten. Der hohe Gerichtshof erklärte das für strafbar und mich für verurteilt zum – Durchfall. Langer hatte wahrscheinlich auch vom großen Dresdner Sängerfeste her noch den Vers im Ge­dächtnis, den der Arzt und Dichter Dr. Keiler als Festspruch vorgeschlagen hatte: „Die Nachtigall singt auf dem Baum, der Mensch kann’s auf der Erde kaum“ und glaubte ihn be­sonders auf mich anwenden zu müssen. Es war eine herbe Enttäuschung. Aber ich ließ mich nicht entmutigen und nahm, um meine hartnäckige Gehörlosigkeit zu überwinden, nochmals Gesangsunterricht bei einem studierenden Seminaristen, einem Meißner Landsmanne. Zu Beginn des zweiten Semesters bewarb ich mich aufs neue, diesmal wohlweislich nicht für den ersten, sondern für den weniger überfüllten zweiten Baß, bei dem ich eine nachsichtigere Würdigung meiner natürlichen Gaben erwarten durfte. Und es gelang. Dreißig Freudegefährten sammelten sich am 3. Mai 1874 im Kreuzgange um den Fuchs­major und hielten, über ein in der schmalen Spitzbogentür liegendes Fäßchen mit aufgesteckten brennenden Kerzen springend, fröhlichen Einzug in den Verein, vom Chor der Burschen mit dem Fuchsliede „Was kommt dort von der Höh?“ begrüßt. Die Sitte des Fäßchensprunges stammte wohl aus alter Zeit;

[Bild]

Prof. Langer
Dirigent des „Paulus“

 

Prof. Dr. Georg Voigt

[-] [65] wenn sie etwa bedeuten sollte, daß dem einspringenden Fuchse die Erleuchtung aus dem Bierfasse kommen werde, so habe ich das an mir eigentlich nicht bestätigt gefunden. In dem kleinen Raume trat man mit den mehr als hundert Sangesbrüdern sofort in die engste Berührung. Nach der Begrüßung und Einweisung durch den „Doktor“ ordnete sich die Schar zum Zuge. Er schlängelte sich unter dem Gesange des Liedes „Ihr Wandervögel in der Luft“ wie ein tönendes blaues Band durch die innere Stadt nach der Vereinskneipe, dem „Elderado“ auf der Pfaffendorfer Straße.

Welch ein ungewohntes Treiben, in das man hier geriet, um sich bald darin wohl und heimisch zu fühlen, dank dem all­gemeinen brüderlichen Du und dem herzgewinnenden Auf­treten des Direktors. Neben ihm war bei diesem Anlasse, wie überhaupt bei Festlichkeiten, auch der Vorsteher des Vereins anwesend, einer der Universitätsprofessoren, der es übernommen hatte, die Körperschaft mit Rat und gegenüber der Hochschule auch mit der Tat zu unterstützen. Damals war es der Professor Osterloh von der Juristenfakultät, dem die wenig beneidens­werte Aufgabe oblag, das Formen- und Formelwesen des alten sächsischen Zivilprozesses zu lehren. Während er so im Hörsaal fleißig an der Verknöcherung der angehenden Juristen arbeitete, gab er sich außerhalb frisch und ungezwungen. Der biedere Herr war uns ein treuer Berater voll Verständnis für studentischen Geist und jugendlichem Übermut. Seiner Verwendung war es zu danken, daß der Verein bald einen neuen schönen Übungsraum, den ehemaligen Anatomiesaal im Paulinum, samt einem prächtigen Flügel überwiesen erhielt.

Gesangsübungen und daran anschließend Kneipabende wurden wöchentlich zwei abgehalten. Die Einübung der Gesänge betrieb der Doktor mit heiligem Eifer und doch im gemütlichsten Tone. Wurde es aber bei schwierigen Stücken nötig, die Stimmen einzeln durchzunehmen, so konnte er gereizt [66] werden; dann nannte er uns nicht mehr seine „lieben Jungen“, sondern „meine Herren“, und das genügte auch für den Sorg­losesten, sich zusammenzunehmen. Die Kneipe wurde bald aus dem Elderado, das sich durchaus nicht als Bierparadies bewährte, nach der Zahnschen Wirtschaft auf der Rosentalstraße verlegt, just derselben Straße, wo der Held der „ver­lorenen Handschrift“ gewohnt und die beiden Scheusale Bräu­hahn und Speihahn ihr Wesen getrieben hatten. Wir saßen an drei langen Tafeln, nur zwanglos in besondere „Ecken“ gegliedert; da fanden sich befreundete und gleichgestimmte Brüder zusammen und die älteren waren bestrebt, die Er­ziehung der jüngeren zu männlichem Wesen und ehrenhaftem Benehmen zu fördern. Durch den Zufall der Leibfuchswahl kam ich an die „junge Ecke“. Aber da sich zwischen mir und meinem Leibburschen bei unserer Wesensverschiedenheit nicht das wünschenswerte enge Verhältnis entwickelte, ging ich nach Ablauf des Fuchssemesters zur benachbarten Ecke, dem „Sumpf“ über. Ganz unpassend war der urwüchsige Name dieses Kreises nicht, denn es herrschte hier eine ziemliche Bierfeuchtig­keit, aus der sich zuweilen nächtliche Irrlichter entwickelten. Aber nicht das zog mich an, sondern der Umstand, daß die Ecke manche der besten Köpfe von reiferem Alter und aus allen Fakultäten aufwies, gescheite und witzige Burschen, mit denen sich angeregte Gespräche und Wortkämpfe über wissen­schaftliche und politische Fragen führen ließen. Da war mein Platz, und ich verzichtete gern auf die Vorzüge anderer Gruppen wie die unermüdliche Sangesfreudigkeit und Musikschwärmerei der „Kruzianerecke“, die Beschaulichkeit und Schweigseligkeit der „Niedersachsen“, die Genügsamkeit der „Perser“, die am liebsten per se waren, auch sogar den feinen Ton der „Sphäre“, auf deren Tische am Ersten des Monats die reichlich rollenden neuen Reichsgoldmünzen einen überirdischen Klang hervorbrachten. Zur Belebung der Geselligkeit trug es viel bei, daß im Vereine die Sachsen mit sangesfrohen Söhnen aller [67] anderen deutschen Stämme untermischt waren, die in ihrem treuen Zusammenhalten ein schönes Abbild der neugewonnenen völkischen Einheit gaben.

Von den Trinksitten mit ihrem sinnlosen Zwange will ich schweigen. Diese Schatten im Bilde der Studentenkneipe waren beim Paulus gewiß lange nicht so schwarz wie bei mancher anderen Körperschaft, immerhin hatte die Derbheit der akademischen Geselligkeit früherer Jahrhunderte auch bei ihm Spuren zurückgelassen. Meint doch aber selbst eine zarte Seele, wie Jean Paul, wenn man bedenke, bis zu welchem Flor die Wissenschaften bei dem Primaner steigen, solle man dem Musensohne ein gewisses barbarisches Mittelalter, das sogenannte Burschenleben, gönnen, das ihn wieder so stähle, daß seine Verfeinerung nicht über die Grenzen gehe. Indessen, von nächtlichen Heldentaten an Straßenlaternen und Firmen­schildern habe ich nichts zu sehen bekommen, und auch von der Neigung zu Herausforderungen, nach denen man sich den Friedensvertrag auf der Mensur mit Keilschrift gegenseitig ins Gesicht schrieb, war unter uns wenig zu spüren. – Burschen­lieder wurden auf unseren Kneipabenden nicht gesungen, sie blieben den besonderen Kommersen vorbehalten, die der Paulus in der Regel zweimal im Jahre, bei seinem Stiftungsfeste und nach dem Fackelzuge beim Rektorwechsel, veranstaltete. Die Kneipabende gehörten den Quartetten, die vom Platze aus mit durcheinandergemischten Stimmen gesungen wurden. Das eigens für den Verein zusammengestellte Liederbuch „Vivat Paulus“ enthielt eine Auswahl der schönsten Perlen des deutschen Männergesangs. In dieser Pflege des edlen Liedes inmitten fröhlicher Geselligkeit lag hauptsächlich der bestrickende Reiz des Paulinerlebens. „Die Musika“, sagt der sangesfreudige Martin Luther, „ist eine Gabe und Ge­schenk Gottes, so vertreibt sie auch den Teufel und macht die Leute fröhlich“ und er hat Recht: falls aber doch ein armer Teufel unter uns verweilte, sang er fromm und fröhlich mit [68] uns das Lob des Höchsten. Wenn der Obmann – er hieß von der Zeit her, wo er das Amt des Schriftführers ver­waltete, noch in alter Zopfigkeit „Sekretär“ – in den Lärm der Unterhaltung hinein Ruhe gebot und das zu singende Lied ankündigte, wenn die Jünger der Tafelrunde ihr rotes Notenbuch ergriffen; wenn dann der Doktor die Hand erhob und alsbald aus hundert jugendfrischen Kehlen die Töne kräftig brausend oder leise webend durch die Stille des Saales klangen, da wurden in den Seelen der Sänger alle Regungen der Freude und Wehmut, der Sehnsucht und Begeisterung wach, und ein einziges Gefühl beglückender Zusammengehörigkeit umschlang den ganzen großen Freundeskreis. In solche selige Stunden hinein ließ der Doktor, dieser prächtige Paulinervater mit dem reinen Kinderherzen, bisweilen das Plauderbächlein seiner gemüt- und humorvollen Beredsamkeit plätschern, oder ein von fernher gekommenes „altes Haus“ stand auf, um unter dem Donner eines heranrollenden Fäßchens den Schwur ewiger Treue zum Paulus zu erneuern, oder unser außerordentliches Mitglied Viktor Neßler, der musikalische Nachschöpfer des Trompeters von Säckingen, setzte sich ans Klavier und trug die traurige Geschichte vom giftigen grünen Tarlatan vor, die zum Totlachen war. Nicht selten kletterte ein kleiner Fuchs auf den Stuhl oder gar, um seiner Länge eine Elle zuzusetzen, auf den Tisch und erdreistete sich, in ge­reimter oder ungereimter Rede seine Bändiger mit der Schale seines Spottes zu übergießen. In dieser Rolle des Kneipzeitungsmannes habe ich mich fleißig und nach Kräften betätigt. Schon am Schlusse des zweiten Semesters wurde ich als „Protokollant“ zum zweiten Vorstandsmitgliede gewählt. In dieser Eigenschaft des Schriftwarts habe ich mancherlei Be­richte und Gesuche an Ministerium, Senat und andere amtliche Stellen abgefaßt, was mir ja schon von meinen Schreiber­jahren her geläufig war, aber sogar auch einmal ein Glück­wunschtelegramm in Versen an unser Ehrenmitglied Joseph [69] Viktor von Scheffel, den Urschöpfer des Trompeters von Säckingen, das der gefeierte Dichter durch rücksichtsvolles Schweigen beantwortete. In Vertretung des Sekretärs hatte ich gelegentlich auch den Vorsitz an der Kneiptafel zu führen; dabei ragte ich über die Vorstandsecke wohl nicht sehr hoch hinaus, stand aber wenigstens vor mir selber groß da. Wenn Judex – so nannten sie mich – in das tobende Volk sein Silentium! hineindonnerte, dünkte er sich wie ein Meeres­gott, der die aufgeregten Wogen beruhigt: Quos ego!

Im Biergenuß habe ich das durch die Vernunft gebotene Maß in der Regel innezuhalten verstanden. Wir hatten aber einmal zu Weihnachten von einem Freunde ein Fäßchen Wein gespendet erhalten.

„Und sieh! noch einmal kehrt ihm wieder
die alte weinesfrohe Zeit.
Er feiert gerade beim Klang der Lieder
das große Fest der Christenheit,
da wälzt man ihm ein Fäßchen Wein
– vor Freud’ war Paulus wie versteinert –
zu seines Saales Tür herein
nebst einem Gruß vom Dr. Meinert.“

Als wir zu dessen Verzapfung ein üppiges Heringsessen veranstalteten, ereilte mich das Verhängnis. Zu der Flasche Wein, die auf den Mann entfiel, gedachte ich mir eine zweite zu vergönnen. Bedächtig durchmusterte ich die Weinkarte mit den vielen hochklingenden Marken und entschloß mich dann zur Bestellung des billigsten Mosel­blümchens. Das war offenbar ein ganz besonderer Saft, wahrscheinlich stark beeinflußt von Zuckerwasser. Als wir aufbrachen, war ich, im Kopfe benebelt von dem tosenden Beifall auf die von mir losgelassene Kneipzeitung, auch nicht mehr unumschränkter Herr über meine Beine. Zwei hilfreiche Freunde nahmen mich unter die Arme und stellten mich, während sie aus der Kleiderablage die Überröcke holten, wie [70] einen blassen Pfefferkuchenmann an die Wand, wo ich bei der mir gerade an diesem Abend sonderbar beschleunigt erscheinen­den Erdumdrehung die größte Mühe hatte, den Boden nicht unter den Füßen zu verlieren. Dann wandelten wir langsam und unter aufhältlichen Gesprächen über die höchsten Fragen des Daseins bis an meine Haustür. Die schmale Holztreppe in den vierten Stock hinauf sollte ich allein erklimmen, und ich muß tatsächlich, wenn auch vielleicht unter erheblichen Schwierig­keiten, oben angelangt sein, denn am anderen Morgen fand ich mich richtig im Bett. Es war ein Nachteil für mein Be­finden, daß ich den Hering schon am Abend im voraus verzehrt hatte. Für die Zukunft gelobte ich mir, die Mahnung unseres Schutzheiligen in seiner Epistel an die Epheser, Kapitel 5, Vers 18, zu beherzigen: „Saufet euch nicht voll Weines, daraus ein unordentliches Wesen folgt, sondern werdet voll Geistes.“

Einen vergnügten Abend brachte jedesmal die auch von den Professoren gern besuchte Weihnachtsbescherung. Es wurde eine von Vereinsbrüdern gedichtete und vertonte Operette oder Posse aufgeführt, und daran schloß sich die Verteilung kleiner Scherzgeschenke mit Verlesung witziger Widmungen. Ich habe dazu manches bösartige Verschen beigesteuert, aber keins ist mit einem solchen Heiterkeitssturm aufgenommen worden und mir so im Gedächtnis geblieben wie der schlagende Witz, den ich als Besucher der Bescherung in dem uns be­freundeten akademischen Gesangverein Arion erlebte: Einem alten Burschen, namens Krause, wurde eine lange Stange mit den Worten überreicht:

Ohne Balancierstange kommst Du doch nicht nach Hause,
hier hast Du eine – warte, Krause!

Nach der Weihnachtsoperette begannen die gesanglichen Vorbereitungen für das große Winterkonzert, das der Verein Anfang Februar öffentlich im Gewandhause aufzuführen pflegte und an das sich folgenden Tages ein festlicher Ball [71] anschloß. Hervorragende Werke für Männerchor wie Wagners Liebesmahl der Apostel, Brahms Rinaldo und Bruchs Frithjof sind mir durch diese Aufführungen, an denen Künstler von Rang mitwirkten, erschlossen worden. Bedeutende Ton­setzer vertrauten ihre neugeschaffenen Werke gern dem Paulus zur ersten Aufführung an, denn neben dem Kölner und dem Wiener Männergesangverein galt er – meiner Mitwirkung zum Trotz – als einer der leistungsfähigsten Männerchöre in deutschen Landen.

Die Sommermonate brachten Feste in fast zu reicher Fülle. Am 4. Juli ward die Stiftungsfeier des im Jahre 1822 gegründeten Vereins durch eine prunkvolle Ausfahrt in allen verfügbaren Zweispännern und Droschken Leipzigs begangen. Unter Trompetengeschmetter und der Führung berittener Chargierter, zu denen ich mangels ausreichender Körpergröße und Schlagfertigkeit nicht gehörte, bewegte sich der endlose Zug nach einem der Nachbardörfer und leitete in einen fest­lichen Kommers über. Die studentischen Gebräuche und die alte Burschenherrlichkeit kamen hier voll zu ihrem Rechte, hoch gingen beim „Landesvater“ die Wogen der vaterländischen Begeisterung. „Deutschlands Söhne, laut ertöne euer Vater­landsgesang! Vaterland, du Land des Ruhmes, weih’ zu deines Heiligtumes Gütern uns und unser Schwert!“ Von der unvermeidlichen „Katerspritze“ am nächsten Tage kaum zurückgekehrt und noch nicht ganz ausgeschlafen, erschienen wir am Morgen des 6. Juli vor der Wohnung des geliebten Doktors, um ihn zu seinem Wiegenfeste mit einem Ständchen zu überraschen. Bei dem Geburtstagsgebet

„Es weht durch euren Frieden, ihr schönen Erdengau’n,
Du Gotteswelt hienieden ein seliges Vertrau’n“

kam es infolge der Katerstimmung leicht zu gefährlichem Schwanken des Zusammenklangs; dann ergriff der Treffliche wohl selbst den Taktstock, um die ihm dargebrachte Huldigung zu einem glücklichen Ende zu führen. Hierauf lud er uns [72] regelmäßig zu einem schon vorbereiteten Kaffeestündchen im Garten des Schützenhauses ein. Über diesem Morgen lag der ganze Reiz des gemütlichen Verhältnisses der Pauliner zu ihrem Vater Langer, der, Kaffeekanne und Kuchenteller in der Hand, mit seiner liebenswürdigen Gattin ergötzlich wett­eiferte, an ihnen auch Mutterstelle zu vertreten. – Gegen Ende des Monats wurde ein großes Sommerfest mit Gartenkonzert und Tanzvergnügen im Schützenhause abgehalten. Eine tausendköpfige geladene Zuhörerschaft, darunter viele alte Häuser von auswärts mit weiblichem Zubehör, lauschte hier den vorwiegend heiteren Gesängen, und hunderte lieb­reizender Sächsinnen drehten sich dann mit anschmiegungslustigen Jünglingen froh im Kreise. Die zahlreichen Brüder, die wie ich, dem Herumhüpfen im Gedränge des heißen Saales keinen Geschmack abgewinnen konnten, ließen sich in der offenen Gartenhalle zu einer Kneip- und Liedertafel, Knopptafel genannt, nieder, die allmählich auch auf die Tänzer ihre An­ziehungskraft ausübte. Bald nach Sonnenaufgang zog die fröhliche Gesellschaft im Gänsemarsch durch die schweigenden Gassen zum Kaffeetrunk nach Bonorands Wirtschaft im Rosentale.

Die Reihe der sommerlichen Feste war noch nicht erschöpft, das Hauptvergnügen sollte erst kommen. Jedes Jahr gingen von Freunden des Paulus und Verehrern seiner Sangeskunst aus der Provinz Botschaften ein, die ihn zur Veranstaltung von Konzerten für milde Zwecke einluden. Die erste dieser „Konzertspritzen“, die ich mitmachte, ging nach der gastfreund­lichen Fabrikstadt Greiz. Einzug durch die fahnengeschmückten Straßen, am Sonntagmorgen Frühstück im Freien auf einem schönen Aussichtspunkte, wo das staunende Auge das ganze Fürstentum Reuß älterer Linie und noch einige Nachbar­länder dazu überschauen konnte, nachmittags weltliches Kon­zert, abends Ball, am andern Morgen Ausflug nach dem Städtchen Berga, auf dessen gebirgigem Marktplatze man an [73] einer wellenförmigen Kneiptafel den Doktor sehen konnte, wie er mit einem Hebebaum den Takt zur „Jugendzeit“ schlug; nach der Rückkehr am Nachmittage geistliches Konzert in der Stadtkirche, abends Kommers, am dritten Morgen feierliche Entlassung der ins Philisterland abziehenden Brüder mit einer jener Reden des Doktors, durch die er alle in tiefster Seele zu packen verstand, und zum Schluß nachmittags eine lustige Rundfahrt auf zusammengetrommelten Fahrzeugen aller Art, von der feinen Kutsche bis herab zum Kinderwagen und Hundekarren. Das Schauspiel, das mit dieser letzten Ver­anstaltung der Einwohnerschaft der fürstlichen Haupt- und Residenzstadt geboten wurde, glich nicht in allen Einzelheiten dem Triumphzuge eines römischen Imperators, fand aber den Beifall des Brot und Spiele verlangenden Volkes in hohem Maße und half unseren Ruhm in die weitesten Kreise tragen. Bei der Abreise nahmen wir als Geschenk des hochherzigen Bürgers, bei dem ich zu Gaste gewesen, einen stattlichen schwar­zen Bernhardiner, namens Cäsar, mit, der dann lange Jahre der treue Begleiter der Pauliner und aufmerksame Verzehrer ihrer Knochen geblieben ist. In großer Zahl geleiteten uns die freundlichen Gastgeber unter den Klängen flotter Marschweisen auf den Bahnhof, in Eile küßte der Doktor noch einmal alle anwesenden Frauen und Mädchen ohne Ansehen von Alter, Schönheit und Tugend, die Lokomotive pfiff und die Nacht­schwärmer rückten im Wagenabteil zusammen, um einen langen Schlaf zu tun.

Eine solche Konzertfahrt bot reichliche Gelegenheit, studentischen Übermut in harmloser Weise auszutoben, und brachte Gastgebern wie Gästen eine Fülle von Vergnügen und Genuß. Ich habe in den nächsten Jahren noch die nicht minder fröhlichen Spritzen nach Plauen und zu meiner be­sonderen Freude auch nach Meißen mitgemacht, wo ich mit Stolz die blau-weiße Flagge aus der Wohnung meiner Mutter am Dampfschifflandeplatze flattern ließ. Mein bisweilen [74] etwas lendenlahmer Pegasus scheint auf der Frühkneipe im heimatlichen Kaisergarten recht lustige Sprünge ge­macht zu haben, wie denn Kötzschkes urkundliche Geschichte des Paulus ernsthaft berichtet, die Bierzeitung Richters habe die Leute so gereizt, daß sie Tränen lachen mußten.

Nicht so reich an Vergnügen, um so mehr aber an musi­kalischer Anregung waren die Fahrten, die wir unternahmen, wenn man uns zur Mitwirkung bei Tonkünstlerfesten einge­laden hatte. Ich bin zu solcher Veranstaltung mit in Halle gewesen, wo die herrschende Hitze die Aufführung in einen Gesang der Männer im feurigen Ofen verwandelte, nach dem wir erst bei einer lustigen Kahnfahrt auf der Saale wieder aufatmeten. Ein andermal in Altenburg hatten wir mit grausamer Kälte der Zuhörer, die allergnädigsten vom Prinzenraubschlosse nicht ausgenommen, zu kämpfen. Hier galt es ein neues Werk Felix Dräsekes, die Kantate Germania, aus der Taufe zu heben. Wir hatten uns mit seinen schwierigen Tonmalereien redlich herumgeplagt, aber trotz der ermunternden Anwesenheit seines Lehrers Franz Liszt erlebte der Tondichter mit dem sieghaften „Hurra Germania“ eine erschütternde Niederlage. Wie geistesabwesend sahen wir den Enttäuschten hinter der Rampe dem wegschwimmenden Lorbeer nach­starren. Damals war der junge Meister mit seiner Musik der Zeit vorausgeeilt, und als ich ein Menschenalter später mit ihm in persönliche Berührung trat, galt er vielen schon wieder als überlebt. Künstlers Erdenlos!

Neben den großen Fahrspritzen gingen kleine Fuß­spritzen munter einher. Fast jeden Sonntag nachmittag rückten wir unter dem Gesange der „Wandervögel“ in stattlicher Schar nach einem der „Bierdörfer“ in der näheren oder weiteren Umgebung der Stadt aus, nach Gohlis oder Eutritzsch, Wahren oder Böhlitz-Ehrenberg, Lindenau, Connewitz oder sonst einem Punkte des berühmten Leipziger Schlachtfeldes. Wenn wir da im Garten des Gasthofes unsere Lieder erklingen [75] ließen, sammelte sich bald eine dankbare Zuhörerschaft am Zaune, zwar ohne den feineren Kunstgeschmack und Wohl­geruch der Gewandhausbesucherinnen, aber frisch mitfühlend und von Kennerschaft unbeschwert genießend. Einmal aber lief es böse ab. Wir waren nach Zwenkau gefahren und im Gänsemarsch in das Städtchen eingezogen, dann hatten wir uns im Ratskeller niedergelassen, sangen Quartette und da­zwischen eine lustige Biersinfonie auf den Text: „Pump mir Moos und sei mein Freund“, worauf der Kantor des Ortes im Namen der anwesenden Bürger einen Trinkspruch auf den Paulus ausbrachte. Gegen Abend schlenderten wir in den Straßen herum. Einige hatten vor einer Schmiede unbefugt ein dort stehendes Wagenrad hin und her gerollt und dadurch den Zorn des Eigentümers erregt. Sofort war eine Menschen­menge zusammengelaufen und über die harmlosen Missetäter schimpfend hergefallen. Diese zogen sich unter Führung des tapferen Obmannes Max Schubert fechtend nach unserem Hauptquartier zurück und retteten sich hinter das schnell ge­schlossene Tor. Da ergab sich, daß einer der Kämpfer, die den Rückzug deckten, im letzten Augenblick einen tiefen Messerstich in den Rücken erhalten hatte. Sein Blut floß in Strömen. Draußen tobte die Volksmenge, suchte aber vergeblich in das Haus einzudringen. Die Rückkehr war uns abgeschnitten, wir mußten auf Strohlagern in der Ratskellerwirtschaft übernachten und zogen erst am anderen Morgen ab. Unser schwerverletzter Freund wurde von einem sofort herausgeeilten Professor der Medizin über die Lebensgefahr glücklich hinweg­gebracht, mußte aber wochenlang im Orte liegenbleiben. Den feigen Messerstecher konnte man in der gerichtlichen Unter­suchung nicht ermitteln. Die Nachricht von dem Überfall auf die Pauliner eilte durch alle Zeitungen. Zum Glück konnte ich meinem besorgten Bruder auf seine telegraphische Anfrage, ob ich verletzt sei, verneinend antworten. Das Vor­kommnis lieferte einen erschreckenden Beweis, wie tief bei der [76] verhetzten Arbeiterbevölkerung schon der Haß gegen alles ging, was nach besserer Lebensstellung aussah. Es war ein schwacher Trost, wenn man sich erinnerte, daß bereits im Mittelalter die Handwerksgesellen wiederholt die ihnen verhaßten Studenten in Leipzig angegriffen und ihre Kollegienhäuser belagert hatten.

Der unerfreuliche Vorfall blieb glücklicherweise ver­einzelt und mahnte nur zur Vorsicht in der Wahl der Ausflugs­orte. Die alte Wanderlust durch Gottes herrliche Natur erlitt keine Einbuße. Einen besonderen Genuß brachte jedes Frühjahr die „Gondelspritze“ nach Connewitz. An einem schönen Nachmittage ruderten wir mit befreundeten Familien in zahlreichen Gondeln auf der Pleiße durch das Ratsholz, vergnügten uns im Waldkaffee mit Gesang und Tanz und traten bei einbrechender Nacht die Rückfahrt an. Aber welch eine Fahrt! Tiefes Schweigen liegt über dem Walde, fast lautlos kräuseln die Ruderschläge das Wasser. Da horch! im dichten Gebüsch läßt am dunkeln Ufer eine Nachtigall ihr sehnsuchtsvolles Lied erschallen, nicht weit davon noch eine, und wieder eine! Entzückt lauscht alles den süßen Tönen, dann ein halblauter Zuruf und wir antworten mit Perfalls:

„Nachtigall, ich hör’ dich singen,
’s Herz im Leib möcht’ mir zerspringen;
herzige Frau Nachtigall,
sei gegrüßt viel tausendmal.“

Wieder hallt der Gegengruß der Sängerin durch den Wald und bald leise, bald anschwellend, erklingt Niels Gades zartes Quartett:

„Die Abendwölkchen prangen,
laß Liebchen dir nicht bangen,
komm zu mir in den Kahn!“

und nach erneutem Zwischenspiel der Nachtigall

„Schlafe Liebchen, weil’s auf Erden
nun so still und seltsam wird;
oben geh’n die goldnen Herden,
für uns alle wacht der Hirt.“

[77] Gar manchem mochte sich bei diesem Wechselgesang ein geheimes Sehnen ins Herz schleichen, auch rauhere Gemüter mußten sich von der Schönheit des Erlebnisses ergriffen fühlen. Und wenn hie und einer sich müde in den Kahn legte, spann er die Eindrücke des Augenblicks gewiß im Traume fort. Das waren Nächte, die nicht leicht aus dem Gedächtnis schwanden.

So schüttete der Paulus andauernd ein reiches Füllhorn von Freuden auf seine Jünger aus – nicht umsonst freilich, denn ihr Genuß verschlang gar manche kostbare Stunde. Vielleicht hätte ich nicht ihm allein, sondern bisweilen auch anderen gelehrten Aposteln nachfolgen sollen; aber der goldne Ring, den ich als Ehrenzeichen für die ihm bewiesene Hingebung erhielt, war doch auch ein wertvoller Besitz. Ich habe die blaue Mütze mit Stolz getragen. Daß der Senat das Banner der Universität bei Aufzügen ständig dem Paulus anvertraute, war ein sichtbarer Beweis für das Ansehen, das er genoß. Es erschütterte mich daher nicht sehr, als mein Schulkamerad aus Freiberg, der einem Korps beigetreten war, beim Zusammentreffen während des „Couleurbummels“ auf der Grimmaischen Straße mich nicht mehr zu kennen schien: es war ihm offenbar verboten, mit einem farbentragenden Kommilitonen, dessen Körperschaft mit der seinigen nicht im Kartellverhältnis stand, Grüße auszutauschen. Ver­sagten doch die Korps, auf ein völlig veraltetes Herkommen aus früheren Jahrhunderten pochend, auch bei öffentlichem Auftreten der Studentenschaft, besonders beim Rektorats­fackelzug, jedesmal ihre Beteiligung, wenn ihnen nicht die Leitung der Sache zugestanden wurde. Ich konnte an den Korpsburschen beim besten Willen nichts entdecken, was sie über die anderen Studenten emporgehoben und ihren Anspruch auf die alleinige Führerschaft gerechtfertigt hätte, es müßte denn die allen Anforderungen der neuesten Mode entsprechende Kleidung, Frisur und Körperhaltung gewesen sein. Daß ein solcher überheblicher Dünkel unter der aufgeklärten akademischen [78] Jugend gedieh und sich sogar ins spätere Leben fortpflanzte, schien mir für die Wechselwirkung aller Stände, wie Fichte sie zur Verbesserung des Menschengeschlechts für notwendig erklärte, keine sehr günstigen Aussichten zu eröffnen.

Die Universität nahm ihren Sängerverein nur wenig in Anspruch. Bei ihren Gottesdiensten in der Paulinerkirche pflegte ein besonderer kleiner Kirchenchor an hohen Feiertagen eine Motette vorzutragen, den Aktus beim Rektorwechsel verschönten wir durch unsern Festgesang und beim Begräbnis von Professoren pflegten wir ein Beati mortui zu singen. Ich durfte mitwirken, zweien meiner Lehrer, Heinrich Wuttke und Friedrich Ritschl, den Scheidegruß zu bringen. Ein solcher Trauergesang für einen bedeutenden Mann stimmte mich immer feierlich; es war wie wenn der Chor der griechischen Tragödie das Schlußwort zu einem Heldenschicksal spräche. – Die Mitwirkung in den berühmten Gewandhauskonzerten unter Karl Reineckes Leitung machte uns mit manchem Meister­werke der Tonkunst bekannt, auch den großen Freudenchor in Beethovens neunter Sinfonie habe ich dort mitgesungen. Selbst in der Schauspielkunst sollte ich mich betätigen. Der Professor Schuster, ein junger Philosoph mit dichterischen Anwandlungen, ließ sein Trauerspiel Perpetua, das einen Stoff aus der Zeit der Christenverfolgungen behandelte, im Alten Theater aufführen. Ein von Langer vertonter Ge­fangenenchor wurde von Paulinern gesungen, andere dienten als Statisten. Auch ich hatte mich dazu gemeldet und stellte in Toga und phrygischer Mütze einen Mann aus dem Volke von Karthago vor. Wir hatten zu schreien: „Werft sie den Hunden vor! werft sie den Hunden vor!“ was freilich meinen Gefühlen gegenüber der reizenden Perpetua, die von Franziska Ellmenreich dargestellt wurde, durchaus zuwider lief. Wenn ich den Versicherungen der Vereinsbrüder Glauben schenken darf, hat mein Auftreten starken Eindruck auf die Zuschauer gemacht, wenigstens auf ihre Lachmuskeln, und das ist in [79] einem Trauerspiel immerhin ein nicht zu unterschätzender Erfolg. Auf den Brettern, die die Welt bedeuten, mit einer Ellmenreich um die Palme der Künstlerschaft gerungen zu haben, blieb mir eine stolze Erinnerung.


Ein behagliches Dasein.

Auch ohne den freudenreichen geselligen Kreis, der sich mir erschlossen hatte, würde ich mich in Leipzig leicht eingelebt haben. Zwar nahm die Stadt nicht auf den ersten Blick für sich ein, denn ein so schönes Bild wie Dresden mit seiner freien Lage am Strome und in bergiger Umgebung zeigte sie nicht, und meinem verwöhnten Auge erschien die flache Gegend anfangs ziemlich öde. Aber die weitausgedehnten Laubwälder im Westen mit ihren jahrhundertealten Eichenriesen, und dem abwechselungsreich gewundenen Wasserlaufe der Elster, überall belebt von flötenden Nachtigallen und huschenden Eichkätzchen, boten dem Naturfreunde Reize genug. Schon das nahe­gelegene Rosentalwäldchen mit Bonarands Kaffeegarten und Kintschys Schweizerhüttchen besuchte man stets mit Ver­gnügen, nur mußte man sich erst an den kräftigen Duft der dort lustig blühenden Knoblauchpflanze gewöhnen, die wahrscheinlich gepflanzt wurde, um die Anziehungskraft der Stadt und ihrer Messen auf die östlichen Handelsvölker zu steigern. Der unschätzbare Ring von Gartenanlagen, der sich an Stelle der Festungswerke um die Stadt zog, lud ebenfalls zu angenehmen Spaziergängen ein. Freilich störte mich der Augustusplatz als klaffender Riß im grünen Promenadenkranze; die ihn umgebenden Gebäude des Museums, der Universität, des Theaters und der Post schienen mir den gewaltigen Platz nicht genügend zusammenzuhalten, und das einzige Bauwerk aus früher Zeit, die kleine Paulinerkirche, ehemals die dem heiligen Paulus gewidmete Kapelle des Dominikanerklosters, [80] kam mir vor wie ein altes Mütterchen, das eingeengt und mißvergnügt auf seine großspurige Umgebung blickte. Aber in der inneren Stadt – welch eine Fülle stattlicher Häuser mit kunstreichen Schauseiten und welch reges geschäftliches Treiben in den Straßen, ein wahrhaft großstädtisches Leben! Und wie schön im Mittelpunkte der Markt mit seinen altertümlichen und geschichtlich bedeutsamen Gebäuden: den Platz beherrschend und achtunggebietend das wuchtige Rathaus mit seinen sechs hohen Giebeln, dann das stolze Königshaus, wo einst Gäste, wie Peter der Große und Karl XII. weilten, wo der friedsame Gellert vor dem kriegsgewaltigen Friedrich für die leidende Menschheit eintrat, wo der geschlagene Korse nach der furcht­baren Schicksalsschlacht von seinem irregeleiteten sächsischen Bundesgenossen auf immer Abschied nahm; endlich das berühmteste Haus der Stadt, Auerbachs Hof, in seinen zahl­losen Gewölben und Buden Jahrhunderte hindurch die Nieder­lage für die kostbarsten Waren Europas, für mich noch immer von Bedeutung, wenn ich eine neue blaue Mütze brauchte, nachdem die alte dem Brauche des Aufspießens beim „Landes­vater“ zum Opfer gefallen war.

In meinen häuslichen Verhältnissen hatten sich wichtige Veränderungen vollzogen. Die Wohnung auf der Blumen­gasse behagte mir nicht lange. Die ältliche Wirtstochter, der Stolz ihrer Eltern, war eine ganz Fromme; sie besuchte alle Zusammenkünfte und Predigten der Heiligen und trug dann stundenlang aus beneidenswertem Gedächtnis die gehörten Erbauungsreden ihren Eltern vor. Das durch die Tür wider­standslos mit anhören zu müssen, brachte mich allmählich zur Verzweiflung. Ich kündigte und bezog zusammen mit einem Vereinsbruder aus Schlesien ein Zimmer bei einem Schuhmacher in der Burgstraße. So sah ich mich aus der Vorstadt mitten hinein in das älteste Leipzig versetzt, auf der einen Seite den malerischen Thomaskirchhof, auf der anderen die Pleißenburg mit ihrem trotzigen Turme, dem Wahrzeichen der Stadt,

[Bild]

Prof. Dr. Wuttke

 

Prof. Dr. Roscher

[-] [81] in dessen Mauern einst Doktor Martinus seinen Redekampf mit Herrn Professor Eck aus Ingolstadt siegreich bestanden hatte. Es fehlte also nicht an ernsten geschichtlichen Eindrücken, aber ganz ließ ich mich davon nicht beherrschen. Mein Stubenbursche war ein guter Klavierspieler; um mir seine Kunst dienstbar zu machen, übernahm ich zur Hälfte den Mietzins für ein Pianino. Er lud dann häufig einen Landsmann ein, der die Geige gefühlvoll strich, und während die beiden Musik hervorbrachten, lag ich, die mir davon gebührende Hälfte genießend, ausgestreckt auf dem Bette. Selbst auf der Treppe gab es im Hause Zeitvertreib. Ein junges Mädchen, hübsch und nicht allzu schüchtern, hatte lustig trällernd zufällig immer vor der Tür zu tun, wenn einer der Studenten herunterkam. Da schickte es sich natürlich, eine freundliche Ansprache an die Holde zu richten. Mein Freund hatte ihr weisgemacht, ich sei ein Dichter, und sie bat mich daher um ein Erzeugnis meiner Muse. Ich erklärte mich bereit, ihr auf Vorrat eine Grabschrift abzufassen, sie lautete:

Hier ruhet sanft die schöne Berta Munkelt,
gar feurig hat ihr Auge einst gefunkelt,
von Liebesfreude hat sie viel gesungen,
bis Liebesleid zuletzt sie umgebrungen.

Das war so der Ton, in dem ich damals dichtete, er wird sich seitdem nicht wesentlich geändert haben. Aber ich fand An­erkennung: eine Freundin der von mir in der Blüte ihrer Jugend Totverkündeten ließ mich bitten, ihr auch so ein schönes Gedicht zu machen. Daß mein ohnehin etwas zu lebens­freudiger Stubenbursche gerade sein Freiwilligenjahr abdiente, trug nicht dazu bei, unsre Wohnung mit einem wissen­schaftlichen Dunstkreise zu erfüllen. Er nahm es auch mit seinen militärischen Pflichten nicht übermäßig genau, nament­lich machte er sich um das ihm meist fehlende Nachtzeichen wenig Sorge. Wenn er sich auf der Kneipe verspätet hatte, borgte er sich für den Heimweg Hut und Überrock und hängte [82] unter diesem das verräterische Seitengewehr um den Hals. So schritt er, Arm in Arm mit mir, seinen Hauptmann in die Schranken fordernd, dreist und daher ungefährdet an den Nachtstreifwachen vorüber. Bisweilen kam mein lustiger Justus so früh nach Hause, daß es sich für ihn kaum noch lohnte, vor dem Dienst das Bett aufzusuchen. Seine häufigen Streif­züge durch die Nacht der Großstadt, auf denen ich ihn, natürlich nur der Wissenschaft halber, einigemale begleitete, waren wenigstens eine gute Vorübung für den Grenzjägerberuf, dem er sich später, nach vergeblichen Anläufen zum Eindringen in die Geheimnisse der Rechtsgelehrtheit, widmete. Wenn doch unser fleißiger Meister Knieriem, aus dessen Händen so mancher schadhafter Studentenstiefel gut ausgebessert hervorging, auch einmal die besserungsbedürftigen Kunden selbst hätte gehörig in die Kur nehmen können!

Ich machte zum zweiten Male die Erfahrung, daß das Zusammenwohnen mit einem Studienfreunde dem Freunde der Studien nicht immer zuträglich ist. Als daher die Not­wendigkeit anhaltenden Arbeitens an mich herantrat, mußte ich auf eine ruhigere Heimstätte bedacht sein. Ich wählte eine Dachwohnung in der Häusergruppe An der Pleiße, Place de repos, im Volksmunde Pflasterdepot genannt. Die Wahl erwies sich als glücklich, der „Ruheplatz“ war zum Arbeiten wie geschaffen. Ein Wohnzimmer, in der Länge mit drei Schritten zu durchmessen, in der Breite genügend Platz für das Sofa und zwei ausgestreckte Beine bietend, am Fenster im reichlich und billig einströmenden Himmelslicht der Arbeitstisch, draußen für Musestunden eine Art Söller mit dem Fenster­brett als Sitz und der Dachrinne als Fußbank, daneben der Blitzableiter als kürzester Verkehrsweg nach unten, gesprächige Gesellschaft von Tauben und Sperlingen, freie Aussicht auf weite Gärten und darüber hinweg auf Hinterhäuser, an deren Fenstern man Frauen lachend beim Kaffeemahlen, Mädchen weinend beim Meerrettigreiben, Männer beim Pfeifereinigen, [83] Jünglinge beim Bartwichsen und Kinder bei allerhand anderen Unfug beobachten konnte; neben der Stube eine Schlafkammer, durch eine Dachluke beleuchtet und vom Bett völlig ausgefüllt, kurz, eine herrliche Wohnung, nicht eben viel größer als ein Vogelbauer für lockere Zeisige; dazu ein freundlicher, geistig reger Wirt, der Küster von der Peterskirche, der für seinen Pfarrer, den Universitätsprofessor Fricke, einen ausgezeich­neten Kanzelredner und vortrefflichen Menschen, schwärmte, und mir behilflich war, meine trotzige Abneigung gegen die Diener der Kirche zu überwinden, endlich und nicht zuletzt eine liebenswürdige, mütterlich sorgende Wirtin und ein fröh­liches Töchterlein im Backfischalter – das war mein neues Heim, in dem ich mich unsagbar wohl fühlte und wieder mit voller Kraft zu arbeiten anfing. Hier blieb ich im freund­schaftlichen Verkehr mit der Wirtsfamilie bis ans Ende meiner Studienzeit. Wir machten miteinander häufig Spaziergänge hinaus ins Freie. Ich fand an ihnen willige Abnehmer für meine neubackene Weltweisheit und bereicherte ander­seits meine Kenntnisse in manchen Fragen des täglichen Lebens. Einmal wurden wir in einem Gasthause der Umgegend von dem Wirte ungewöhnlich aufmerksam und gut bedient. Zum Danke schrieb ich darüber einen lustigen kleinen Bericht, dessen Aufnahme in die Leipziger Nachrichten mein Hausfreund vermittelte; einen Abdruck davon schickten wir dem Gastwirte zu. Dieser hatte ihn, wie wir später erfuhren, bei der Bewerbung um die Pacht des Schützenhauses in einer Nach­barstadt als Empfehlung benutzt und damit den ge­wünschten Erfolg erzielt. Es war meine erste Betätigung in der Presse und mir ein überwältigender Beweis für die Macht des gedruckten Wortes. – Daß ich im „Pflasterdepot“ nicht mehr als zehn Mark monatliche Miete, das Frühstück eingeschlossen, zu bezahlen hatte, ließ ich mir gern gefallen, obwohl meine Einkommensverhältnisse keineswegs gedrückte waren.

[84] Für die ersten Semester hatte ich eine Stelle im königlichen Konvikt erlangt, wo mehrere hundert Studenten freies Mittag- und Abendessen genossen. Das war – und ist wohl noch – eine vortreffliche Anstalt mit eigenartigen Gebräuchen. In einem großen Erdgeschoßraume am Paulinerhofe standen in Reihen schwere quadratische Tische, umgeben von hölzernen Bänken. Jeder Tisch mit acht Mann hatte zur Handhabung der Ordnung einen selbstgewählten Senior, auf erhöhtem Sitze thronte der Konviktinspektor, ein älterer Kandidat der Theologie. Mit dem Glockenschlage trugen die Universitätsdiener die Schüsseln auf, ein kleines Brot, der sehr beliebte „Konviktschinken“, der von vielen mit nach Hause genommen wurde, lag vorher auf jedem Platze bereit. Mittags gab es gewöhnlich Fleisch mit Gemüse, Sonntags Braten mit ge­dünstetem Obst, abends Wurst oder Butter und Käse. Auf der großen Gemüseschüssel schwammen acht Schnitte Fleisch, für jeden Tischgenossen einer. Wenn versehentlich ein Stück fehlte oder sonst an der Speise ein Mangel festzustellen war, ließ der Tisch ein achtstimmiges „Herr Inspektor!“ erschallen, worauf dieser erschien, um die Beschwerde entgegenzunehmen. Das Essen war in der Regel reichlich und schmackhaft; wurde aber doch einmal eine nicht ganz tadellose Speise aufgetragen, so machte sich die Unzufriedenheit von allen Seiten in dem Rufe nach dem Inspektor Luft, der aber in solchen schweren Fällen nicht leicht Abhilfe schaffen konnte. Das Herausstechen der Fleischstücke aus der Schüssel ging an den meisten Tischen der Reihe nach rundum, dann teilte der Senior mit dem Schöpf­löffel das Gemüse aus. An manchen Tischen aber herrschte der „wilde Stich“, wobei diejenigen am besten abschnitten, die das sicherste Augenmaß hatten und sich nicht scheuten, mit ihrer Gabel die Hände der Nachbarn in Gefahr zu bringen. Abgesehen von solchen rücksichtslosen Brüdern, hielten die Tischgenossen gute Kameradschaft, und wenn einem etwas Erfreuliches, sei es der Geburtstag oder ein Stipendium oder [85] eine bestandene Prüfung, zugestoßen war, stiftete er den Genossen einen „Wurstsatz“, das heißt eine Verdoppelung der abends häufig auf den Tisch kommenden warmen Würstchen, die dann unter festlichem Spruch auf den Spender verzehrt wurden. Natürlich war die Studentenschaft zu Scherzen jederzeit gut aufgelegt, besonders gegenüber zylindergeschmückten ehrbaren Landpastoren, die besuchsweise im Saale erschienen, um ihre Erinnerungen an diese nahrhafte Stätte aufzufrischen, und die man gern durch den Ruf „Mann! Mann!“ und die donnernde Aufforderung „Hut ab!“ und dann wieder „Hut auf!“ in Bedrängnis brachte. Eine ergötzliche Aufführung gab es, wenn zur Meßzeit eine Musikbande draußen ihre Gassenhauer vortrug und die ganze Tischgesellschaft mit vollen Backen in den Kehrreim einstimmte, so bei dem schönen Liede:

Jule kam zu mir und sagt’, sie wollt mich küssen,
und vor lauter Liebe hat sie mich gebissen. Jule! Jule!

Sonnabends zog regelmäßig nach dem Essen ein großer Teil der Konviktoristen, unter ihnen auch ich, um die herrlichen Motetten des Thomanerchors zu hören, in die Thomaskirche, durch deren ehrwürdige Hallen einst der große Bach seine Orgelstürme hatte brausen lassen. Das war allemal eine feine künstlerische Nachspeise.

Ich gab den Genuß des Konviks zugunsten Bedürftigerer auf, sobald ich ansehnliche Stipendien erlangt hatte. Von der Stadt Meißen war mir schon während meiner Schulzeit ein Stipendium zugeflossen, jetzt bewilligte mir das Domstift ein solches von jährlich 150 Mark auf drei Jahre, die Regierung aus der König-Johann-Stiftung eins von 450 Mark auf zwei Jahre. Mit diesen Beihilfen und den fortdauernden Zuschüssen meines Bruders saß ich nun behäbig in völlig geordneten Kassenverhältnissen, die es mir sogar ermöglichten, bisweilen einen Freund über die letzten Tage des Monats ohne Schaden für Ehre und Wohlbefinden hinwegzubringen. Ich nahm den Mittagstisch mit Behagen in der von Studenten vielbesuchten [86] „Guten Quelle“ auf dem Brühl ein. Dann und wann glaubte ich auch in der Tuchhalle an der Hainstraße in verständigem Gespräch mit irgendeinem biederen Handwerksmeister, der von „Achtung für meine Herren Kalamitosen“ durchdrungen war, mir eine „Gose“ gönnen zu dürfen. Ob die Behauptung mancher Kneipzeitungen, daß dieses erquickende Getränk zuerst von Jakob und seinen Söhnen im Lande Gosen gebraut worden sei, wirklich begründet ist, vermag ich nicht zu sagen; jedenfalls erinnert seine Farbe an die des Nils in der Überschwemmungszeit und die langhalsige Flasche an ägyptische Gefäßformen. Am liebsten trank ich das edle Naß im Garten der Gosenschänken in Gohlis und Eutritzsch und wunderte mich nicht, daß Blücher und seine Helden an jenem 17. Oktober gerade auf diese Dörfer so stürmisch losgegangen waren. Wein, auch mäßig genossen, bedeutete für mich unverantwortliche Ver­schwendung, ich besuchte daher nie die Frühkneipe, die unser Langer mit einigen in starkem Wechselstrom schwimmenden Paulinern in Huths Weinstube am Universitätshofe, der „Huthschachtel“, abzuhalten pflegte. Nur in Auerbachs Keller bin ich einmal gewesen. Ich mußte doch die Stelle kennenlernen, wo Goethe gemerkt hatte, daß Leipzig ein klein Paris sei; zu den Leuten, die es bildete, gehörte ich ja selbst. Studenten traf ich dort nicht und keines Basses Grundgewalt schallte von den Gewölben wider. Wenn mich etwa im Hinblick auf meine Paulinermütze irgendein Frosch gefragt hätte: „Seid ihr wohl gar ein Virtuos?“ so würde ich mit Mephistopheles wahrheitsgemäß haben antworten können: „O nein, die Kraft ist schwach, allein die Lust ist groß.“ An der Örtlichkeit hatte sich seit Fausts Zeiten offenbar manches geändert. Der Tisch mit den Borlöchern stand nicht mehr da; nur etwas Brand­geruch spürte ich noch, vielleicht kam er aber aus der Küche. Übrigens konnte ich den Wein, nach allem was er mir mit­gespielt, nicht als meinen aufrichtigen Freund ansehen, wie vermochte ich da der seinige zu sein? Bei aller dem Meißner [87] Kinde angeborenen Einsicht in die herzerfreuenden Eigenschaften eines guten Tropfens blieb ich ihm stets ein schwacher Gelegenheitstrinker. Auch dem Kaffee brachte ich, obwohl aus dem Herzen Sachsens stammend, wenig Leidenschaft entgegen. Zwar leistete ich mir bisweilen ein Schälchen des würzigen Trankes, im Anschauen des großstädtischen Getriebes selbstzufrieden auf dem hohen Söller des Kaffeehauses Felsche am Augustusplatze sitzend, um nachzuholen, was mir auf der Brühlschen Terrasse in Dresden versagt geblieben war. Aber in dem engen und dunklen Paulinerkaffee der Mutter Zaspel, wo die meisten beim Qualm des Tabaks und dem Klatschen der Skatkarten sich behaglich fühlten wie die Würste in der Räucherkammer, bin ich weder nachmittags noch nachmitternachts oft anzutreffen gewesen. An warmen Sommerabenden ließ ich mir bisweilen im Milchgarten zu Gohlis eine kühlende Schüssel saure Milch schmecken. Es gab auch Zeiten der Magenverstimmung, wo ich die sprudelnde und perlende Kraft des Selterswassers an mir erprobte. Doch waren das alles nur belanglose Nebenflüssigkeiten – wenn ein ordentlicher akademischer Durst mich plagen wollte, verschob ich ihn auf den nächsten Paulinerkneipabend: dort behandelte ja der weitberühmte Naturheilkundige Hofbraumeister Gambrinus mit staunenswertem Erfolge die inneren Leiden des Studenten.

Die Ferien habe ich gewöhnlich, mit langsamer Kraft arbeitend, bei den Meinigen in Meißen verlebt. Das dem Ferienstudenten unentbehrliche Ansehen bei den heimischen Philistern glaubte ich mir durch den schweren Tritt zweier gewaltiger Kanonenstiefel erzwungen zu haben, die mir mein Bruder hatte machen lassen, um meinem Studium kräftig auf die Beine zu helfen. Hier hatte ich auch Gelegenheit, das rätselreiche Völkchen des Theaters in der Nähe kennenzulernen. Nach der Vorstellung sammelten die männlichen Stützen des Schauspiels in dem kleinen Gasthause zum „Schiffchen“ an der Elbe allabendlich einen Kreis von Verehrern [88] und Verehrerinnen um sich und ließen sich von ihnen nicht bloß bewundern, sondern auch bewirten. Wie oft klagte da einer über den kargen Lohn, den die Kunst ihren Jüngern bringe und der ihnen als Abendmahlzeit meist nur Kartoffeln mit Hering abwerfe, um dann mit der ganzen Inbrunst eines knurrenden Magens zu beteuern, daß ihm augenblicklich eine Portion Schweinebraten ein Göttermahl sein würde. Das war auch für meinen Bruder, den ich manchmal dorthin begleitete, ein nicht mißzuverstehender Wink, mit der Kellnerin ein vertrauliches Wort zu reden. Die schmackhaftesten Erfolge ernteten an der Tafelrunde der erste Held und Liebhaber, ein schon etwas reifer Jüngling mit nichtssagendem Haarkünstlerkopf und Redeschwall. Wir hielten uns mehr an einen tiefer angelegten Mimen, den die Lenkerin des Thespiskarrens mit Rücksicht darauf, daß er außer der Begabung über einen guten schwarzen Anzug und eine vornehme Haltung verfügte, gern in Rollen von Grafen, Geheimräten und ähnlichen erlesenen Geistern beschäftigte, die er mit vieler Würde und Herablassung darzustellen wußte. Er war auch dichterisch veranlagt und vertraute mir eines bierseligen Abends eine selbsterzeugte Ode an, in der er die Schwingen seiner Seele an den Flügeln des hoch auf Bergesgipfeln horstenden Adlers maß. Aber nicht lange nachher hat er sich auf den Boden der Wirklichkeit zurückgefunden und den schlecht nährenden Beruf des Schauspielers und Dichters aufgegeben. Er wurde Meßgehilfe beim Eisenbahnbau, ging dann zur Feuerwehr über und hat jahrzehntelang als ein tüchtiger und tapferer Dresdner Oberfeuerwehrmann ernsthafte Heldenrollen gespielt. In mir vermochten weder diese Bekanntschaften noch meine eigenen Erfolge in der „Perpetua“ schauspielerische Neigungen erwecken.

Im Sommer 1876 verbrachte ich die großen Ferien in Leipzig, um fleißig arbeiten zu können. Als aber im September in der Merseburger Gegend die Kaisermanöver zwischen [89] unserem zwölften und dem preußischen vierten Armeekorps abgehalten wurden, ließ es mir und meinem Freunde Otto Fischer, dem Sohne eines alten Kavalleristen, keine Ruhe, wir mußten hin. Unser Wunsch war es natürlich, den Kaiser und Moltke zu sehen. Wir marschierten am Schlußtage des Manövers kräftig mit über Stock und Stein und hatten Glück: auf einer Bodenwelle sahen wir beide hoch zu Roß, den Gang der Schlacht beobachtend. Wir pürschten uns trotz der Feld­gendarmen so nahe als möglich heran, und ich faßte mit dem Fernglase die großen Herren scharf ins Auge. Der Kaiser bemerkte das und lächelte uns freundlich zu; der in Kanonenstiefeln breitbeinig hingepflanzte kleine Verehrer schien ihm Spaß zu machen. Gegen Abend traf ich dann durch glücklichen Zufall auch noch meinen Bruder Paul, der als Einjähriger bei den Leibgrenadieren diente, über und über mit Staub und Schweiß bedeckt, so daß er durch die Brille kaum aus den Augen sehen konnte. Ich vermochte ihm aus meinem Mundvorrat eine kleine Erquickung zu bieten, die ihm sehr gelegen kam, da die Proviantwagen eine falsche Richtung eingeschlagen hatten und erst nachts bei der Truppe eintrafen. Mir ist dieser Ma­növertag als ein glänzendes Stück von der Wehrhaftigkeit des kaiserlichen Deutschlands unvergeßlich geblieben.


In gelehrter Gesellschaft.

Mit dem Aufstieg in die höheren Lagen des Wissenschafts­bereiches lichteten sich mir allmählich die Nebel, die über meiner Zukunft schwebten. Ich erkannte deutlicher die mir gesteckten Ziele und steuerte ihnen zuversichtlicher entgegen. Meinen Neigungen folgend, glaubte ich von der Vorbereitung auf einen Beruf absehen zu können, der mir wenig innere Befriedigung versprach und nur ein Notbehelf hatte sein sollen. Mit dem vierten Semester gab ich die philologischen Studien auf und [90] begann neben den geschichtlichen vorwiegend volkswirtschaftliche, sowie staats- und finanzwissenschaftliche Vorlesungen zu besuchen. Da habe ich manche Stunden zu den Füßen des berühmten Nationalökonomen Wilhelm Roscher gesessen. Die hüstelnde Sprechweise des kleinen Mannes im langschößigen grauen Rock wirkte keineswegs packend, aber seine Vorträge fesselten ungemein durch die Klarheit der Gedanken und die Fülle des Stoffes. Er ließ sich nicht viel auf Aus­einandersetzungen mit wissenschaftlichen Gegnern ein, seine Lehrsätze traten als unbedingt gültig auf, und so hatte man nach jeder Stunde das beruhigende Gefühl, wieder ein Stück unanfechtbaren Wissens mit nach Hause zu nehmen. Er verstand als Beweisstücke für seine Lehren aus dem Leben und dem Schrifttum der Jahrtausende so viele köstliche Beispiele zusammenzubringen und mit der ernstesten Miene von der Welt vorzutragen, daß die Vorlesung mitunter beinahe zur Unterhaltung wurde. Roscher las im größten Hörsaale der Universität, im ersten Stock des Bornerianums. Seine zahl­reiche Gemeinde setzte sich aus Angehörigen aller Fakultäten zusammen, unter ihnen viele Ausländer und auch bejahrte Männer. Es war gewiß anerkennenswert, wenn in einer so zusammengewürfelten Gesellschaft immer gute Ordnung herrschte. Eines Tages war einem meiner Bekannten ein fremder großer Hund bis in den Saal nachgelaufen. Er wurde hinausgejagt, huschte aber mit Nachkommenden wieder herein und legte sich zwischen dem Rednerpult und der ersten Bank, auf der ich saß, ruhig nieder. Wie es schien, wollte er an Stelle seines Herrn, der wohl mit seinem Studium auf den Hund gekommen war, praktische Nationalökonomie hören. Als der gefeierte Lehrer das Pult betrat und den sonderbaren Studenten vor sich erblickte, ward er bleich vor Entrüstung und forderte die Entfernung des Tieres. Aber niemand rührte sich, keiner wollte den Schein auf sich laden, als ob der Hund ihm gehöre. Es folgte ein peinliches Schweigen und eine erregte zweite [91] Aufforderung des Professors. Da schwang sich ein neben mir sitzender Russe, den ich immer stark im Verdacht des Anarchis­mus hatte, über die Schulbank heraus, ergriff den ungebetenen Gast beim Halsband, schleifte ihn zur Tür und schleuderte ihn weit hinaus. Der russische Anarchist hatte die deutsche akademische Ordnung gerettet.

Neben Roschers Kollegien hörte ich deutsche Staats­- und Rechtsgeschichte, sowie Staatsrecht bei Emil Friedberg, und neueres deutsches Staatsrecht bei Karl Biedermann und setzte die philosophischen Studien bei Max Heinze fort. Das Höchste, was sich mir an wissenschaftlichem Genuß darbot, waren die Vorträge Wilhelm Wundts über Kosmologie oder Theorie und Naturgeschichte des Weltalls. Sie gaben Gedankenarbeit von einer Tiefe und in einer so edlen Form, daß man sich zu freudiger Bewunderung hingerissen fühlte. Auch von den Geisteserzeugnissen anderer Gebiete habe ich gelegentlich stundenweise genippt, wenn ich erfuhr, daß ein besonders leckerer Trank angekündigt war, so wenn der Jurist Binding einen Fall von Mord aus Irrtum auseinandersetzte oder der Zoologe Leuckart die von ihm entdeckten Trichinen vorführte oder gar wenn der Astrophysiker Zöllner mit staunens­wertem Scharfsinn das Bestehen einer vierten Dimension nachwies. Als mich später mein Amt mit der bildenden Kunst in Berührung brachte, hat mich die versäumte Gelegenheit gereut, beim Professor Overbeck kunstgeschichtliche Vor­lesungen und Übungen zu besuchen. Daß er mich als Schrift­führer der Pauliner während seines Rektorats einmal zu einer Abendgesellschaft einlud, war doch nicht ausreichend gewesen, mich in sein Wissensgebiet gründlich einzuführen; ich hatte bloß gemerkt, daß er die Kunst verstand, Studenten fein und liebenswürdig zu bewirten.

In meinem Hauptfache hatte sich eine Änderung voll­zogen. Professor Voigt konnte, durch Schwerhörigkeit be­hindert, in seiner Gesellschaft nicht Rede und Gegenrede [92] pflegen. Die historische Kritik und Methode ließ sich aber in bloßer Erläuterung von Quellenschriften, wie er sie bot, nicht gründlich erlernen, deshalb war ich daneben in Heinrich Wuttkes historisches Seminar eingetreten. Wir zählten dort nur sechs Teilnehmer, darunter ein hochaufgeschossenes Mädchen, die einzige und deshalb vielbestaunte Studentin in der philo­sophischen Fakultät. Sie überragte mich um fast zwei Kopfes­längen, dennoch unterzog ich mich der ritterlichen Pflicht, sie als Beschützer auf dem Heimwege bis an ihre Haustür zu begleiten. Der Mond, der ja nicht wissen konnte, daß uns nur gelehrte Beziehungen verbanden, mag über das ungleiche Pärchen manchesmal gelächelt haben.

Wuttke war eine eigenartige Persönlichkeit. Von der Politik, die er früher eifrig betrieb, hatte er sich mißmutig zurückgezogen. Er war großdeutscher Demokrat und hatte nach der Erschießung Robert Blums als dessen Ersatzmann dem Frankfurter Parlament angehört. Sein Kampf gegen die Vorherrschaft Preußens war nach 1866 gegenstandslos geworden. Aber noch 1875 ließ er in dritter Auflage ein Buch „Die deutschen Zeitschriften und die Entstehung der öffentlichen Meinung“ erscheinen; darin wußte er manches geheime über die gewiß anfechtbare Verwendung des Welfenvermögens, des sogenannten Reptilienfonds, mitzuteilen, in der Hauptsache war es eine Schmähschrift gegen das Preußentum. Ich dachte selbstverständlich ebensowenig wie die andern Teil­nehmer der Seminarübungen daran, mich seiner politischen Richtung anzuschließen, und er versuchte auch nicht, sie uns aufzudrängen. Möglich, daß spätere Beurteiler ihm mehr Gerechtigkeit widerfahren lassen werden als seine im Eifer für Deutschlands Macht und Größe nicht immer duldsamen Zeitgenossen; wenigstens wird vielleicht seine großdeutsche Gesinnung, für die er zum Haß der Gegner auch noch den üblichen „Dank vom Hause Habsburg“ erntete, künftig nicht mehr so scharf verurteilt werden. Das Äußere Wuttkes [93] konnte wenig für ihn einnehmen: eine in sich zusammenge­sunkene kleine Gestalt mit großem Kopfe, breitem glatten Gesicht und langen schwarzen Haarsträhnen, die ihm über die hohe Stirn herabfielen. Treitschke, sein schärfster politischer Gegner, hat ihn einmal etwas unliebenswürdig eine giftige Kröte genannt. Er kann damit nur die Hausunke (bufo calamita) gemeint haben, und eine solche war Wuttke, der immer hinter den Büchern saß, allerdings. In seinen Vor­lesungen, die damals nur noch schwach besucht wurden, war Wuttkes Sprechweise sicher und fließend, jedoch störte dabei ein häufiges geräuschvolles Stoßen der Luft durch die Nase. So scharf er die Feder und das Wort zu führen verstand, im persönlichen Verkehr war er mild und höflich. Er bewohnte im Vororte Reudnitz ein eigenes, wohleingerichtetes Haus mit Garten. Im Erdgeschoß lag sein großes Arbeitszimmer, von unten bis oben vollgestopft mit einer reichen Bibliothek, die er noch fortwährend vermehrte, denn er war ein großer Bücherfreund. Man konnte ihn nicht selten in Bücherauktionen antreffen, die auch auf mich immer eine große An­ziehungskraft ausübten. Als er dort einmal bemerkte, daß ich mir nicht neuere Darstellungen, wie etwa Giesebrechts viel­bewunderte Kaisergeschichte, sondern mittelalterliche Quellen­schriften erstand, erntete ich seinen lebhaften Beifall. Wuttkes Lieblingsgebiet war die Geschichte des Schriftwesens, er hatte aber auch eine gern gelesene Darstellung der Leipziger Völkerschlacht veröffentlicht. Auf dem Wege zu seiner Wohnung ward ich durch das Denkmal, das am Grimmaischen Stein­wege der am 19. Oktober zuerst in die Stadt eingedrungenen Königsberger Landwehr errichtet war, jedesmal daran er­innert, daß in Leipzig Historie nicht bloß gelehrt wurde, sondern, daß es auch heiliger Boden war, auf dem sich Groß­taten der vaterländischen Geschichte vollzogen hatten.

In der ersten Seminarübung, die ich mitmachte, be­handelte Wuttke die Bartholomäusnacht. Er legte dabei [94] das größte Gewicht auf die Memoirenliteratur und vertrat die Meinung, daß die amtlichen Schriftstücke in den Archiven als Geschichtsquellen minderwertig seien, weil sie vielfach bewußt die Wahrheit verschleierten. Es wollte ihm nicht einleuchten, daß gerade die Verfasser von Denkwürdigkeiten meist darauf bedacht sind, sich selbst herauszustreichen – wie das doch auch meine gegenwärtigen Erinnerungen zur Genüge beweisen. Sein Irrtum war schuld daran, daß die Arbeit über die Bartholomäusnacht, die später aus seinem Nachlasse herausgegeben wurde, eine abfällige Beurteilung erfuhr. – Im nächsten Semester ward ein Stoff aus der altgriechischen Geschichte vorgenommen. Dabei saßen wir an warmen Sommerabenden gemütlich unter der Laube im Garten, etwas un­behaglich wurde es mir nur dadurch, daß Wuttke verlangte, wir sollten alle Quellenstellen, auf die er zu sprechen kam, sogleich fließend übersetzen und erläutern. Bei der Eile, mit der ich mir das Griechische hatte aneignen müssen, war ich darin so sattelfest noch nicht. Über diese Schwäche gab ich mich keiner Täuschung hin, dank rechtzeitiger Beherzigung des sokratischen γνώθι σαυτόν, wenn ich es auch nicht, wie der genügsame Philosophenvater, schon für die höchste Weisheit hielt, sich der eigenen Unwissenheit bewußt zu sein. Eine nicht gerade sehr dringliche Abhaltung kam mir daher eines Abends gelegen, um einmal von der mir ein bißchen zu gelehrten Tafel­runde wegzubleiben. Wuttke hatte gefragt: Wo ist denn heute Herr Richter? und von einem witzigen Genossen die dreiste Antwort erhalten: Der hat die Masern! Als ich von dieser gewagten Entschuldigung erfuhr, mußte ich natürlich, wenn auch mit bösem Gewissen, die Rolle des Kranken wider Willen spielen und kam bis zuletzt nicht wieder, obwohl der gastfreundliche Lehrer das Semester anziehend mit einer zwanglosen Plauderei bei Süßigkeiten und Wein, weißem und rotem, nicht von den schlechtesten Sorten, abzuschließen pflegte. Wie mir später Professor Voigt erzählte, hatte [95] Wuttke ihm gegenüber geklagt, daß die Studenten seines Seminars im Griechischen recht unsicher wären, am besten hätte Richter es beherrscht! Ich war starr. Der aktenfeindliche Forscher erbrachte nun selbst den Beweis, wieviel Verlaß auf persönliche Erinnerung als Geschichtsquelle ist.

Als sein Famulus die Universität verließ, betraute Wuttke mich mit diesem Amte und zugleich mit der Aufgabe, seinem sechzehnjährigen Sohne Robert Unterricht im Lateinischen und Griechischen zu erteilen. Robert war ein begabter und geistig regsamer, aber körperlich schwächlicher Jüngling. Der Vater ließ ihn im Hause unterrichten, um ihn nicht den Anstrengungen des Schulbesuchs, aber auch nicht der Ansteckung mit dem auf den Gymnasien herrschenden kaiser- und preußenfreundlichen Geiste auszusetzen. Die Nerven des jungen Mannes ermüdeten leicht, ich mußte daher in die Metamor­phosen Ovids oft Pausen einschieben; statt die Liebesgeschichte von Philemon und Baucis zu zergliedern, unterhielt ich ihn dann von den Vorgängen in meinem eigenen Herzen, das damals schwärmerisch für die schöne junge Schauspielerin Josephine Wessely erglühte. Die war der hellste Stern an meinem Theaterhimmel und überstrahlte in meinen Augen selbst Größen wie Franziska Ellmenreich und Friedrich Haase, die Peschka-Leutner und Eugen Gura. Beim jungen Wuttke fand ich für den Tausch der Liebhaberrollen erfreuliches Ver­ständnis, aber dem Alten berichtete ich davon lieber nichts: wer bürgte mir dafür, daß er meinen pädagogischen Kunst­griff gebührend gewürdigt hätte! Ich glaubte nicht, daß mein Schüler, der die griechisch-römischen Stärkungsmittel nur tropfenweise zu sich nahm, jemals die Kraft gewinnen würde, ein Amt auszufüllen, aber weit gefehlt. Er wurde vom Vater doch noch auf ein Gymnasium, zwar nicht in Deutschland, sondern in der Schweiz, geschickt, besuchte mit gutem Erfolge mehrere Universitäten und ward schließlich ein angesehener und sehr beliebter Professor der Nationalökonomie an der [96] Technischen Hochschule in Dresden, wo ich wieder in freund­schaftlichen Verkehr mit ihm trat.

Die Bildungsarbeit am Sohne brachte mich auch in Beziehungen zu seiner Mutter. Sie war eine stattliche Er­scheinung mit ausdrucksvollem Gesicht, das noch die Spuren einstiger Schönheit trug, ein rechtes Gegenbild zu ihrem unscheinbaren Gatten. Auch an Bildung und geistigen Fähig­keiten war sie ihm gewachsen, ist sie doch als Emma Biller die Verfasserin zahlreicher guter Jugenderzählungen und geschichtlicher Romane geworden. Man bemerkte in dem freundlichen Verkehr zwischen den beiden Ehegatten nichts von einem inneren Gegensatze. Aber viele Jahre nachher hat Frau Wuttke mir anvertraut, es sei ihr unter dem Drucke der politischen Ansichten ihres Mannes oft der Zweifel ge­kommen, ob diese nicht verfehlt seien, und sie habe sich wie von einem Alb befreit gefühlt, als sie nach seinem Tode offen in die Begeisterung für Kaiser und Reich einstimmen durfte. Denselben Gesinnungswandel hätte der unversöhnliche Preußen­hasser an seinem Sohne erleben können.

Es war mir vergönnt, viel in dem gastfreien Hause Wuttkes zu verkehren. Ich habe da manche willkommene Bekanntschaft gemacht, so mit dem Privatdozenten von der Ropp, dem Schweizer Kulturhistoriker Henne am Rhyn, dem Dresdner Statistiker Petermann, auch mit der Schwester der Hausfrau, der geistvollen Malerin Clara Biller, die, ebenso wie früher der Maler Wilhelm von Kügelgen, un­bewußt eine ausgezeichnete Schriftstellerin war, wie die nach ihrem Tode für die Familie gedruckten Briefe aus Frankreich und Spanien beweisen. Die Unterhaltung in diesem Kreise war immer fesselnd und anregend: sie hielt sich nicht lange bei persönlichen Kleinigkeiten und Tages­erlebnissen auf, sondern ging sehr bald auf allgemeine Fragen von Wissenschaft und Kunst, von Bildung und Gesittung über.

[97] Wuttke beschränkte sich in seinen Vorlesungen auf die geschichtlichen Hilfswissenschaften, für die Behandlung der Zeitgeschichte erschienen ihm bei seiner politischen Gesinnung die Umstände wohl nicht günstig. Da packte ihn aber doch einmal die Lust, sich auszusprechen, und er kündigte für das Sommersemester 1876 eine öffentliche Vorlesung über die Revolution 1848/49 an; sie sollte am 14. Juni nachmittags 4 Uhr beginnen. Der Gegenstand machte Aufsehen, und ich erwartete nach manchen Äußerungen in der Studentenschaft einen starken Besuch, teilte ihm dies auch mit. In der Tat war der Hörsaal zur festgesetzten Stunde überfüllt, so daß ich die versammelten Kommilitonen einladen mußte, in einen benachbarten größeren Raum umzuziehen. Aber wir warteten weit über das akademische Viertel hinaus – der Professor kam nicht. Erst 1/2 5 Uhr erhielt ich die Nachricht, daß er schwer erkrankt sei. Als ich in seine Wohnung eilte, fand ich ihn schon tot. Er war gegen 4 Uhr, wo er hätte aufbrechen müssen, in seinem Arbeitszimmer bewußtlos am Boden liegend gefunden worden und um 5 Uhr gestorben. Offenbar hatte ihn bei der Vorbereitung auf die Vorlesung die Ver­senkung in eine Zeit, in der er selbst leidenschaftliche politische Kämpfe ausgefochten hatte, daneben vielleicht auch die Aus­sicht, wieder wie in alten Tagen vor einer großen Zuhörer­schaft zu sprechen, so lebhaft erregt, daß ein Schlagfluß seinem Leben ein plötzliches Ende bereitete. Ich war in tiefster Seele erschüttert. Als Andenken an das traurige Ereignis blieb mir sein Vorlesungsanschlag vom Schwarzen Brett und der mit meiner einsamen Einzeichnung versehene Belegbogen, den ich hatte in Umlauf setzen wollen. Im Auftrage seines dankbaren Seminars erließ ich in den Tageszeitungen einen Nachruf und habe später auf Grund einer handschriftlichen Lebensbeschreibung, die ein älterer ehemaliger Schüler, Georg Müller, Frauenstein, verfaßt hatte, einen Aufsatz über ihn in die Allgemeine deutsche Biographie geschrieben. Heinrich [98] Wuttke hat die vornehmste Frucht seiner fleißigen Gelehrten­arbeit nicht reifen sehen: die von ihm vorbereitete Welt­geschichte ist nicht erschienen.


Der Doktorhut grüßt.

Ich hatte einen anregenden, kenntnisreichen Lehrer und wohlmeinenden Berater verloren, aber der Fortgang meiner Studien erlitt durch seinen Tod keine ernste Störung. Seit dem letzten Herbst besaß ich für meine wissenschaftliche Betätigung einen festen Rahmen. Unter den Preisaufgaben, die von der Universität beim Rektorwechsel 1875 gestellt wurden, befand sich auch eine geschichtliche: es wurde eine Arbeit über die Organisation und Geschäftsordnung des Basler Konzils verlangt. Das kam mir gerade recht, ich hatte ja mit dem Erfolge bei der Preisbewerbung um das Konstitu­tionsstipendium Blut geleckt. Bei meiner Kenntnis der parlamentarischen Formen konnte ich annehmen, daß ich mich in den Gegenstand leicht einarbeiten würde, und zugleich hoffen, in der Abhandlung eine brauchbare Doktordissertation zu gewinnen. Ich machte mich sogleich ans Werk. Der Hauch mittelalterlichen Kirchentums wehte seitdem in meinem stillen Dachstübchen, mit dem Verfasser der lateinischen Konzils­chronik, dem gelehrten Bischof Johann von Segovia, stand ich bald auf vertrautem Fuße. Wenn ich eifrig bis in die Nacht hinein die mächtigen Folianten von Mansis Konzilien­sammlung gewälzt hatte, sah ich im Traume die Kirchenfürsten des Abendlandes, alle überragend den Präsidenten Kardinal Julius von Cesarini, in Scharlach und Purpur gehüllt, plaudernd und streitend auf der Domterrasse über dem rauschenden Rhein wandeln, bis Glockenklang und Orgelton sie zur Sitzung ins Gotteshaus rief. Es dauerte nicht lange, da wuchs unter meinen Händen ein durchsichtiges Knochengerüst [99] des Konzils empor, gegliedert in Protektorat und Präsidium, Promotoren und Prokuratoren, Deputationen und Nationen, Kommissionen und Missionen, Kongregationen und Sessionen. Die Arbeit ward rechtzeitig abgeschlossen und in sauberer Reinschrift eingereicht. Ich gab ihr das Kenn­wort „Mehr Licht“, nicht etwa, wie es scheinen mochte, um damit für das Ergebnis meiner Forschung den Wert be­sonderer Leuchtkraft in Anspruch zu nehmen, sondern nur um mit dem übertragenen Sterbensworte Goethes meine Be­geisterung für Aufklärung im allgemeinen zum Ausdruck zu bringen.

Nun harrte ich des Erfolges, der beim Rektorwechsel am 31. Oktober 1876 verkündet werden mußte. Eine festlich gestimmte Versammlung von Vertretern der Staats- und Stadtbehörden, von Gelehrten und Studenten füllte die Aula. Geführt von den Pedellen in Amtstracht erschien in feier­lichem Zuge der Rektor, angetan mit Hermelinmantel und Barett und geschmückt mit der goldenen Ehrenkette, an der Spitze der Professoren. Ich befand mich mit den Paulinern auf der Empore. Als wir Mendelssohns Festgesang an die Künstler anstimmten und den unten versammelten Universitätslehrern[WS 2] die Mahnung zuriefen: „Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben, bewahret sie!“ war ich unbescheiden genug, dabei auch an meine eigene Würde und Ehre zu denken, die jetzt von ihrem Urteil abhing. Der Rektor erstattete vom Rednerpult herab seinen Jahresbericht. Meine Spannung stieg aufs höchste, als er dazu überging, das Ergebnis des Preisausschreibens mitzuteilen. Außer der meinigen war eine zweite geschichtliche Abhandlung eingegangen, die un­günstig beurteilt und als ungenügend bezeichnet wurde. Nun kam er auf „Mehr Licht“ zu sprechen. Gleich die ersten an­erkennenden Worte beruhigten mein klopfendes Herz, die Hervorhebung der einzelnen Vorzüge meiner Arbeit klang mir wie Musik, und als sie zum Schlusse als „eine in jeder [100] Beziehung wohlgelungene“ gerühmt wurde, empfand ich eine Vorahnung der Seligkeit. Kaum war mein Name ge­nannt, sah ich mich von glückwünschenden Paulusbrüdern umringt, unter die ich am liebsten von dem mir gereichten Kranze auch einige Blättchen ausgeteilt hätte. Bei dem Fackelzuge, den die Studentenschaft am Abend der alten und der neuen Magnifizenz brachte, pflegte ich den Rock, um den Stoff vor Pechtropfen zu bewahren, mit dem Futter nach außen zu tragen. Diesmal fürchtete ich kein Pech, aber der ganze Mensch in mir war umgewendet, ich fühlte alles Irdische von mir abgestreift und schwebte mit meiner Fackel in dem Flammen­meer leicht dahin wie Phöbos auf dem Sonnenwagen. Solcher Stunden inneren Glanzes gibt es nicht viele im Leben, auch wenn es vom Himmel so reich mit Licht gesegnet ist wie das meinige. Nur einmal noch erinnere ich mich ein gleich be­glückendes Hochgefühl empfunden zu haben: nämlich als ein Jahrzehnt später der Festspruch, den ich zum neunzigsten Geburts­tage Kaiser Wilhelms vor der versammelten Bürgerschaft Dresdens auf Bismarck auszubringen hatte, eine so stürmische Begeisterung erweckte, daß der Saal minutenlang unter dem Beifall von zweitausend Männern erdröhnte, und wiederum, als tags darauf mein edelmütiger Bruder August mir ver­sicherte, nicht tausend Mark würden ihm so lieb gewesen sein wie der Zeitungsbericht über diesen meinen rednerischen Erfolg.

Der Universitätspreis bestand in einer goldenen Denk­münze oder nach Wahl in ihrem Geldwerte von 150 Mark. In der Erwägung, daß Denkmünzen nicht so leicht wegrollen wie Geldstücke, wählte ich die erstere. Sie zeigte auf der Vorder­seite das Bildnis des Königs Albert, auf der Rückseite die Worte Studio et ingenio in einem Eichenkranze. Aber auch Denkmünzen haben ihre Schicksale. Es kam im nächsten Früh­jahr eine Zeit, wo vorübergehnd alle Geldquellen für mich versiegten und auch mein guter Bruder mich auf die Philosophie [101] des Nichts verweisen mußte. Borgen mochte ich nicht, lieber faßte ich den schweren Entschluß, meine Preismünze dem Leihhause anzuvertrauen. Der war auch nicht leicht auszuführen, denn ich schämte mich gewaltig, dorthin zu gehen. Lange stand ich von weitem und beobachtete den Eingang des unfreundlichen magazinartigen Gebäudes an der Prome­nade. Ich sah einen Dienstmann mit Betten bepackt hineingehen und schämte mich noch heftiger. Zuletzt blieb mir aber doch nichts übrig, als ihm zu folgen. Mein Pfandstück fand bei den Beamten, die sich sogleich darum versammelten, offenbar mehr Anklang, als die Betten. Sie sagten mir aber, sie könnten mir nicht die vollen 150 Mark darauf geben, sondern müßten berücksichtigen, daß die Prägekosten beim Einschmelzen verloren gingen. Da war ich aufs höchste ent­rüstet und äußerte, sie sollten doch nicht glauben, daß ich das Pfand verfallen lassen würde. Zum Glück war es mir denn auch sehr bald möglich, es einzulösen, und ich habe seitdem das schöne Gedenkstück noch manchesmal mit Wohlgefallen betrachtet. Jedoch mit dem Weltkriege war auch sein Geschick besiegelt. Als das Vaterland alles Gold brauchte, entschloß ich mich leicht, ihm das meinige zu opfern, und übergab die Preismünze dem Verein Heimatdank zugunsten der Kriegs­beschädigten. So habe ich schließlich mein bescheidenes Ehren­zeichen als ein Blättchen in den Ruhmeskranz für unsere deutschen Helden eingeflochten, deren Kriegstaten alles in Schatten stellen, was je ein Heer der alten oder der neuen Welt geleistet hat.

Der Winter 1876/77 fesselte mich an mein Dachparadies im „Pflasterdepot“ bei der Vorbereitung auf die Doktor­prüfung. Meine Arbeit über das Basler Konzil wurde als Dissertation ohne weiteres angenommen. Ich habe das Glück gehabt, sie schon nach einigen Jahren von Paul Hinschius in seinem großen Handbuche des Kirchenrechts ausgiebig ver­wertet zu sehen, so daß sie also nicht wie viele andere als bloße [102] Übungsarbeit im Strome der Vergessenheit unterging. Freut sich doch jeder Verfasser, wenn sein Werk gute Aufnahme findet, denn naturgemäß liebt er es wie die Mutter ihr Kind: hier Fleisch vom eigenen Fleische, dort Geist vom eigenen Geiste. – Für die mündliche Prüfung waren drei Wissen­schaftsgebiete vorgeschrieben, ich wählte dafür Geschichte, Philosophie und Nationalökonomie. Am 1. März 1877 um 2 Uhr sollte ich mich im Roten Kolleg einfinden, jenem ehr­würdigen Hause an der Ritterstraße, wo vor Zeiten Doktoren, Magister und Scholaren gewohnt und gewirtschaftet und ein so berühmter Mann wie Leibniz das Licht der Welt erblickt hatte. Ein Examen ist wegen der Zufälligkeiten, die es mit sich bringt, stets eine zweifelhafte Sache. Als ich die Treppe hinaufstieg, war der Zylinder, den ich an Stelle der blauen Mütze trug, zwar nicht gerade eine Angströhre, aber doch auch nicht mit Glücksgefühlen angefüllt. Ich legte die Prüfung gemeinschaftlich mit einem Freunde ab. Am Vormittag hatte ich mit ihm einen Spaziergang um die Promenade gemacht und ihm dabei auf seinen Wunsch noch einmal die Grundzüge der deutschen Städteverfassung, in denen er sich nicht sicher fühlte, auseinandergesetzt. Gerade darin nahm ihn Professor Voigt vor und er bestand nun glänzend, während ich über die mir nicht so geläufigen römischen Verfassungsverhältnisse Auskunft geben mußte. Auf eine eigentlich recht leichte Frage, die dem Vergleich einer altrömischen Staatseinrichtung mit der entsprechenden neudeutschen galt, wollte mir nicht sofort die rechte Antwort einfallen. Der als Prokanzellarius den Vorsitz führende launige Professor Leuckart flüsterte sie mir zu, aber es widerstrebte mir natürlich, vor dem berühmten Zoologen den Papagei zu spielen, und ich blieb die Antwort lieber schuldig. Ganz so bedenklich war ich einst in der Gymnasialprüfung nicht gewesen: in der mir vom Rektor Hultzsch zum Übersetzen überreichten Aufgabe des Sallust war zu dem Worte praesidium, das da in der selteneren Anwendung als [103] Waffenplatz vorkam, diese Bedeutung von einem früheren Benutzer hinzugeschrieben; ich machte von der Eselsbrücke gern Gebrauch und erntete für meine gute Wortkenntnis das Lob des prüfenden Rektors.

Bei dem menschenfreundlichen Professor Heinze ging alles glatt. Er konnte sich leicht überzeugen, daß ich nicht damit umging, die Welt durch ein neues System der Philo­sophie aus den Angeln zu heben. Zuletzt kam die National­ökonomie. Da versteifte sich der würdige alte Roscher zunächst darauf, gerade von mir in die Ansichten Adam Smiths über allerlei Wirtschaftsfragen eingeweiht zu werden. Ich hatte dessen Untersuchung über Natur und Gründe des Volksreich­tums gelesen, aber nicht durchgearbeitet, und konnte daher die Wißbegier des Examinators nur unvollkommen befriedigen. Bei so einer Prüfung spielt ja immer das Gedächtnis die wichtigste Rolle, und das war nicht meine Stärke. Zwar habe ich es später dahin gebracht, eine eigene Abhandlung auswendig zu lernen und in einstündigem Vortrage Wort für Wort ohne die leiseste Stockung wiederzugeben, aber für fremde Gedankengänge fehlte es mir an der gleichen Sicherheit des Gedächtnisses. Zudem hatte ich wohl überhaupt neben den Vorlesungen, die ich regelmäßig besuchte, das wissen­schaftliche Schrifttum nicht genug durchgenommen. Was konnte ich aber auch dafür, daß ich aus der schönen Literatur so viel nachzuholen hatte, wozu mir auf der Schule keine Zeit geblieben, daß Malthus und Ricardo, Rodbertus, Marx und Marlo mich nicht so unwiderstehlich anzogen wie Goethes Wilhelm Meister und Wahlverwandtschaften, Immermanns Münchhausen, Gutzkows Ritter vom Geiste und Zauberer von Rom, Freytags Soll und Haben und verlorene Hand­schrift, Reuters Stromtid und so manches andere Meister­werk? Roscher pflegte seinen Hörern dringend zu raten, in den Zeitungen besonders den volkswirtschaftlichen Teil auf­merksam zu lesen. Ich hatte dies getan und mich um praktische [104] Fragen von Gewerbe, Industrie, Handel und selbst Landbau stets gekümmert. Wäre er in der Prüfung gleich anfangs auf solche anstatt auf verstaubte Lehrsätze zu sprechen gekommen, so würden wir uns von vornherein zu voller gegenseitiger Befriedigung unterhalten haben. Immerhin bestand ich die Prüfung auch bei ihm mit leidlichem Anstand und wir schieden als Freunde. Ich konnte die Ernennung zum philosophiae doctor et bonarum artium magister erleichterten Herzens entgegennehmen. In alter Zeit hatte bei dieser Gelegenheit der Vorsitzende eine feierliche Rede gehalten und darin um­ständlich nachgewiesen, daß es ohne Philosophie nicht möglich sei, auf irgendeinem Gebiete Wissen zu erlangen oder eine tüchtige Stellung einzunehmen; sodann war dem Kandidaten ein Barett aus Schafwolle, ein Fingerring und ein Buch als die Zeichen der Magisterwürde überreicht worden. Diese Sitte bestand leider nicht mehr, ich mußte daher meinen Zylinder als Doktorhut benutzen und mich dann bemühen, ihn durch fleißiges Bürsten immer in gebührendem Glanze zu erhalten.

Als ich die Treppe im Roten Kolleg herabstieg, war ich natürlich ein gut Teil klüger als beim Hinaufsteigen und nahm mir vor, manches anders zu machen und vor allem plan­mäßiger vorzugehen, wenn ich wieder einmal studieren würde. Der mir eben aufs Haupt gesetzte Doktorhut drückte noch ein wenig. Dennoch war ich auf ihn beinahe ebenso stolz, als dazumal auf die ersten selbsterworbenen Beinkleider, in denen ich als Advokatenschreiber in Meißen auf die Wachtparade spazierte. Meiner herzlieben alten Mutter – der Vater war ein Jahr vorher von langem Leiden durch den Tod erlöst worden – hat die Nachricht von meiner neuen Kopfbedeckung gewiß viel Freude gemacht. Ob der Guten aber der Kauf­preis nicht etwas zu hoch erschienen ist? Was ich in meinen acht Schul- und Universitätsjahren an barem Geld, einge­schlossen die Schul- und Kollegiengelder und die Kosten der Doktorpromotion, verbraucht hatte, bestand in 2500 Mark [105] Unterhaltsbeiträgen von meinem Bruder August, 1500 Mark vom Schwager Ernst, 1800 Mark öffentlichen Stipendien und vielleicht 500 Mark eigenem Verdienst vom Stundengeben, im ganzen etwa 6300 Mark. Das war, verglichen mit den 150 Talern früherem Jahresverdienst meines Vaters, wahrlich keine Kleinigkeit, ganz abgesehen davon, daß sich während der acht Jahre in meinem früheren Berufe ein er­kleckliches Sümmchen hätte verdienen lassen. Ich aber fand das Glück meiner Jugendjahre und die schließlich erlangte Stellung damit nicht zu teuer bezahlt.


Glücklich am Ziele.

Jetzt war es hohe Zeit, hinsichtlich der Berufswahl zu einem endgültigen Beschlusse zu kommen. So lange Professor Wuttke lebte, hatte er mich ermuntert, auf die Tagesschrift­stellerei hinzusteuern. Bei einem ihm befreundeten Dresdner Journalisten, dessen politische Richtung freilich von der meinigen stark abwich, erkundigte er sich nach den Vorbedingungen dieser Tätigkeit und erhielt, gewiß mit Recht, die Auskunft, daß vor allem noch die Erlernung der Stenographie gefordert werden müsse. Das gefiel mir nicht. Ich hatte mir den Jour­nalisten stets nur als den vornehmen Leitartikler vorgestellt, der am Schreibtische sitzend, mit der Feder die Zeitläufte an sich heranwinkt, nicht aber als den Berichterstatter, der den Tagesereignissen mit gespitztem Bleistift nachlaufen muß. Auch kam es mir immer deutlicher zum Bewußtsein, daß ich nicht die dem Tagesschriftsteller unentbehrliche schnelle Arbeits­weise und Federgewandtheit besaß, sondern mich mehr für die bedächtige Tätigkeit des Forschers eignete. Nicht mit vergänglichen Zeitungsaufsätzen, sondern mit dauerhaften Büchern glaubte ich mich am nützlichsten machen zu können. Das Gesellenstück für das Buchmachergewerbe hatte ich ja [106] mit meiner Dissertation bereits geliefert. Sobald mir dieses Schriftchen gedruckt vor Augen lag, war mir der hohe Reiz der Verfasserschaft lebhaft zum Bewußtsein gekommen. Es ist ein eignes Ding um neugedruckte Geisteserzeugnisse: man hat das Gefühl, als ob die Tausende von Zeilen sich zu einer Drahtleitung aneinander reihten, auf der ein Strom zu fernen Lesern hinausgeht und, wenn er stark genug ist, an den Glüh­fäden ihrer Seele ein Flämmchen entzündet. Dem Urheber bleibt dann die stolze Empfindung, Ausgangs- und Mittel­punkt einer selbstgeschaffenen kleinen Gedankenwelt zu sein. – So hatten sich denn allmählich meine Absichten ganz auf den Beruf des Archivars oder Bibliothekars gerichtet, mit dem sich wissenschaftliche Forschungsarbeit leicht vereinigen ließ. In diesem Fache unterzukommen war aber bei der geringen Zahl der Stellen, trotz der damit verbundenen niedrigen Besoldung, ungemein schwierig. Der neubackne Herr Doktor mußte sich daher zunächst geduldig auf die Lauer legen, und diese Notwendigkeit war es eben, die ihn zu der Bekanntschaft mit dem Leihhause verhalf.

Unterdessen konnte es mir nichts schaden, wenn ich auf der Universität blieb und noch etwas hinzulernte. An Wuttkes Stelle war zu Ostern 1877 Professor Karl von Noorden getreten, ein überaus fesselnder Lehrer, eine Kraft ersten Ranges. Er sprach in seinen Kollegien über die europäische Geschichte des 17. und 18. Jahrhunderts mit loderndem Feuer und einer Kunst der freien Rede, daß es ein Genuß war, ihm zuzuhören. Ich versäumte keinen seiner Vorträge, wenn ich auch seiner gewaltpolitischen Geschichtsauffassung nicht immer beistimmen konnte. Noorden hatte bei Annahme der Professur von der Staatsregierung die Einrichtung eines königlichen historischen Seminars erlangt, das mit schönen Arbeitsräumen und einer reichen Bibliothek ausgestattet wurde. Hier suchte er mit Eifer und Gründlichkeit seine zahlreichen Schüler, zu denen auch ich mich gesellte, in Methode und Kritik der Geschichtsforschung [107] einzuführen, verlangte aber von ihnen ein hohes Maß von Vor- und Mitarbeit an den Übungsaufgaben. Das waren die bisherigen Mitglieder der Gesellschaften Voigts und Wuttkes nicht gewöhnt. Voigt wäre wohl der Mann gewesen, ihnen eine ebenso gründliche Schulung an­gedeihen zu lassen, wenn nicht sein Gehörleiden ihn an der vollen Entfaltung seiner Kräfte verhindert und ihn statt der Übungen auf bloßem Lehrvortrag angewiesen hätte. Wuttke hin­gegen vermochte der Aufgabe um deswillen nicht uneingeschränkt zu genügen, weil er, in Vorurteilen befangen, sich manchen Anforderungen der neueren Forschungsweise versagte. Bei beiden waren wir zu sehr Schüler, zu wenig Mitarbeiter gewesen. „Die Wuttkianer wollen nicht ordentlich arbeiten“ hatte einmal Karl Lamprecht geäußert, der unter den Teil­nehmern des neuen Seminars unstreitig der fleißigste und be­gabteste, freilich auch nicht gerade der anspruchloseste war. Sein hartes Urteil erregte natürlich unsere tiefste Entrüstung, ganz unbegründet war es aber nicht.

Für mich kam die Errungenschaft Noordens überhaupt zu spät. Wie der Ausguckmann, der im Mastkorbe unver­wandt nach dem Hafen ausschaut, saß ich in meinem Vogel­bauer und verfolgte jede Aussicht auf eine geeignete Stellung. Und es eröffneten sich bald Möglichkeiten nach zwei Seiten hin. Für das Staatsarchiv in Weimar wurde ein Hilfs­arbeiter gesucht. Ich meldete mich und wurde eingeladen, mich vorzustellen. Mit Frack und Zylinder angetan dampfte ich hoffnungsfroh hin. Aber das philisterhafte Wesen des Archivdirektors und die kleinstaatlich beschränkten Verhältnisse, die ich in der Unterredung mit ihm kennenlernte, brachten mir eine bittere Enttäuschung. Ohne auch nur die Heiligtümer der Musenstadt aufgesucht zu haben, kehrte ich in gedrückter Stimmung nach Leipzig zurück. Nachher fand es sich, daß ich zwar mit auf der Vorschlagsliste gestanden, daß jedoch „Serenissimus“ unter huldreichster Hinzubewilligung einiger [108] Hundert Mark sich entschlossen hatte, statt des Hilfsarbeiters einen geübten Archivar anzustellen. Der Mißerfolg schlug zu meinem Glücke aus. Nach Zeitungsnachrichten aus Dresden hatte dort in demselben Monat Mai 1877 der älteste Biblio­thekar an der königlichen öffentlichen Bibliothek das Zeitliche gesegnet. Ich vermutete, daß nun nach dem Aufrücken der übrigen Beamten die unterste Stelle zu besetzen sein würde, und schrieb an den Oberbibliothekar Ernst Förstemann, den bekannten Sprachforscher. Nach Erledigung einiger Vor­fragen, erhielt ich sehr bald die Einladung, ihn zwanglos zu besuchen. Das stattliche Äußere dieses Mannes und seine freie, weitherzige Art sich auszusprechen, nahm mich sofort für ihn ein. Er erklärte mir, daß er vom Bibliotheksbeamten vor allem wissenschaftlichen Sinn fordere, und meinte, dieser lasse sich am besten durch eigene Forschungsarbeit erwerben und erhalten. Seine ganze Abneigung galt „gescheiterten Existenzen“, wie sie sich bisweilen mit Empfehlungen hoch­gestellter Personen, zahlreich zu diesem Berufe drängten; nicht minder war es ihm zuwider, wenn Angestellte das Amt nur als melkende Kuh betrachteten, neben deren notdürftiger Wartung sie ihre Liebhabereien treiben wollten. Wer mit dem Absitzen der Dienstzeit genug für das Gemeinwohl getan zu haben glaubte, durfte nicht auf seine Zufriedenheit rechnen. Von diesem Standpunkte aus hatte er an einigen seiner Be­amten viel auszusetzen und sprach sich darüber mit voller Offen­heit aus. Zu den Kräften, vor denen seine Kritik achtungsvoll Halt machte, gehörte vor allen Franz Schnorr von Carolsfeld, dem Herausgeber des Archivs für Literaturgeschichte. An diesen ausgezeichneten Gelehrten habe ich mich denn auch eng angeschlossen, er ist mir ein gesinnungstüchtiger Führer und charaktervoller Freund geworden. Daß mir Förstemann vertrauensvoll gleich beim ersten Besuche alle Schwächen seiner damals allerdings nicht ganz glücklich zusammengesetzten Beamtenschaft verriet, kam wohl von seiner Einschätzung [109] meiner Preisarbeit, die ihm die Gewähr zu bieten schien, daß ich mich in der von ihm gewünschten Weise betätigen würde. Ich dachte mir freilich im stillen, es wäre für den Beamten­körper vielleicht heilsamer, wenn er seine ätzenden Wässerchen auf die wunden Stellen selbst träufelte. Aber Förstemann scheute alle persönlichen Auseinandersetzungen wie das heiße Eisen. Seine weiche Hand ließ die Zügel bisweilen am Boden schleifen. So konnte es kommen, daß die beiden verfeindeten Bibliotheksdiener ihre Zänkereien sogar im Lesesaale laut ausfechten durften, und das mußte doch einen Leser, der etwa gerade in Petrarcas Lieder an Laura vertieft war, recht unliebsam berühren. Als ich bald nachher im neuen Lesesaale die Aufsicht übertragen erhielt, schaffte ich sogleich die bisher herrschende Unsitte des Lautsprechens ab, indem ich selbst leise mit den Benutzern sprach, ebenso auch mit dem Herrn Vorstande, der sich der Anordnung seines Untergebenen willig fügte. Mir ward der geistvolle Mann ein freundlicher Gönner, und seiner Empfehlung verdankte ich nachher die Stellung, in der ich mein Lebenswerk aufbauen konnte. Doch ich bin mir selbst vorausgeeilt!

Nach der Unterredung lud mich der Oberbibliothekar zu einem Rundgange durch sein Reich ein. Ich hatte es bisher nur einmal flüchtig betreten, als ich mir für meine Arbeit einen der großen Bände von Mansis Konziliensammlung, der auf der Leipziger Bibliothek fehlte, holen mußte. Da reihte sich nun Saal an Saal mit Hunderttausenden von Büchern, die mich mit ihren vergoldeten Einbandrücken lockend anglitzerten, besonders die feinen hellbraunen Kalblederbände aus dem Be­sitze des glanzliebenden Grafen Brühl, zu deren Verzierung sich mancher blanke Dukaten aus dem Steuersäckel des Landes hatte müssen breitschlagen lassen. Dazu Tausende von Hand­schriften, aus denen sich wohl für die Wissenschaft noch viele Früchte würden gewinnen lassen. Ein Gefühl der Ehrfurcht überkam mich, als ich in die Urschrift der Chronik Thietmars [110] von Merseburg blickte, denn ihr Inhalt hatte bei den geschicht­lichen Übungen auf der Universität eine wichtige Rolle gespielt. Meine Vorliebe für das Gewaltige fand Befriedigung in dem großen, von Stuckmarmorsäulen getragenen Saale der deutschen Geschichte, der mir mit seiner Pracht und seinen Schätzen in Zukunft ein Lieblingsaufenthalt werden sollte.

Mit ganz anderen Empfindungen als kürzlich von Weimar fuhr ich von Dresden ab. Ich hatte die frohe Zuversicht, einer allen meinen Neigungen entsprechenden Wirksamkeit entgegenzugehen. Mitte Juni erhielt ich die Nachricht, daß die Generaldirektion der königlichen Sammlungen meine Anstellung als Hilfsarbeiter mit dem gewiß nicht glänzenden, aber für meine Bedürfnisse zunächst ausreichenden Gehalte von jährlich 1350 Mark für den 1. August beschlossen habe. Die Lehrjahre waren zu Ende, als Kopfarbeiter wollte ich nun selbstständig schaffend in den Dienst der Wissenschaft treten.

Bald schlug die Stunde des Abschieds von Leipzig. Als ich zur Fahrt gerüstet auf dem Bahnhofe erschien, begrüßte mich eine große Schar meiner Paulusbrüder, um mir nach uralter Sitte das „Komitat“ zu bringen. Wenn in früheren Jahrhunderten die Studenten dem heimziehenden Landsmanne ein Stück des Weges das Geleit gaben, hatten sie dabei zu­gleich das wüste Vergnügen gesucht, auf den Dörfern Lärm und Unfug zu verüben. Jetzt war es ihnen Herzenssache, dem Genossen der studentischen Freuden den letzten Gruß zu bieten. Da gab es viele Freundeshände zu schütteln. Jede anwesende himmelblaue Mütze war gleichbedeutend mit einem Grad Gefühlswärme gegenüber dem Scheidenden, ihrer dreißig atmeten schon eine wonnige Sommerstimmung, aber wer es gar auf achtzig brachte, stand – nach Reaumur – auf dem Siedepunkt der Beliebtheit. Genau gezählt habe ich die Köpfe meines Ehrengeleits nicht, nur flüchtig überschauen konnte ich sie, in Wehmut und Rührung. Beim dritten [111] Glockenzeichen brauste es in vielstimmigen Chor durch die Halle:

„Nun zu guter Letzt bringen wir dir jetzt
auf die Wandrung das Geleite ...“

Mitten hinein ließ der rotleuchtende Bahnhofsvorsteher, nach einigen Augenblicken rücksichtsvollen Zögerns, den schrillen Abfahrtspfiff ertönen, noch ein väterliches Behüt’ Dich Gott! und ein Kuß vom herzensguten Doktor zum Wagenfenster herein und der Zug setzte sich in Bewegung. Tiefergriffen hörte ich von weitem allmählich verklingend den Gesang der Brüder:

„Wenn du bist im Glück, denk an uns zurück
... Lebe wohl, auf Wiedersehen!“



[112] Von demselben Verfasser ist erschienen:

Lebensfreuden eines Arbeiterkindes.
Jugenderinnerungen von Prof. Dr. Otto Richter.
Mit 13 ganzseitigen Federzeichnungen und Buchschmuck.
Preis geb. 2.–. Oskar Laube Verlag, Dresden.


Urteile der Presse:

Es ist ein liebes, recht volkstümliches Buch aus dem alten Meißen ... An Gemütlichkeit und Traulichkeit, an hellem Witz, an Anspruchs­losigkeit und inniger Familienliebe erkennt der Leser die besten nah­verwandten Züge sächsischen Wesens ... (Dresdner Anzeiger vom 16. Dez. 1919.)

Es ist ein schlichtes und dennoch poesieumduftetes Bild, das der spätere hochangesehene Gelehrte von seinen Kindheitstagen zeichnet, zart, als sei es mit einem Silberstift hingeworfen, aber zugleich voll lebendigster Anschaulichkeit, und durchzogen von einem freien und gesunden Humor ... (Sächsische Staatszeitung vom 24. Dez. 1919.)

Otto Richters Buch reiht sich, so anspruchslos und bescheiden der Verfasser auch hinter der Umwelt zurücktritt, den vielen schönen sächsischen Erinnerungsbüchern würdig an ... (Dresdner Nachrichten vom 25. Dez. 1919.)

... das Leben eines Arbeiterkindes, das sich vom Advokatenschreiber zur gegenwärtigen Stellung emporgearbeitet hat ... (Dresdner Volkszeitung vom 20. Dez. 1919.)

Das ganze Schriftchen durchweht ein Hauch von echter Poesie und echtem Humor ... Möchte der Verfasser ihm eine Fortsetzung folgen lassen ... (Neues Archiv für Sächs. Geschichte Band 41.)

Ein köstliches Buch. Ich habe seit langer Zeit nichts gelesen, was mich in innerster Seele so erfreut und erwärmt hätte ... Die heiter kunstvolle und doch ungekünstelte Darstellung gewährt einen großen Genuß vom Anfange bis zum Ende ... (Chemnitzer Allgemeine Zeitung vom 25. Dez. 1920.)

Es ist ein goldiges Buch, auch eine Art soziale Dichtung, wenn auch in Prosa ... (Volkskunst, München, Jahrg. 8.)

Hier ist ein liebenswürdiger beredter Zeuge, daß das „Bahn frei dem Tüchtigen!“ im alten ehrlichen monarchischen Deutschland jederzeit in Geltung war ... (Deutsche Zeitung, Berlin, vom 30. Jan. 1920.)

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Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Gerog
  2. Vorlage: ehrern (Vermutlich Druckfehler, wurde sinngemäß durch „lehrern“ ersetzt.)