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Seite:Otto Richter Lehrjahre eines Kopfarbeiters.pdf/46

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am Eliasfriedhofe zuschritt, überzeugte ich mich schon von weitem, daß die musikalischen Darbietungen auf sehr kräftige Nerven berechnet waren. Ohne jedoch schwindlig zu werden, wand ich mich zwischen einem Dutzend Karussells mit dem Tönegewirr von ebensovielen großen Leierkasten hindurch und gelangte zunächst an das Zelt der Riesendame. Ich war nicht abgeneigt, so etwas kennenzulernen, befürchtete aber, ich könnte als übereifrig getadelt werden, da die Anthropologie bei uns erst in der Oberprima Lehrfach war. Daher entschloß ich mich, lieber Ethnologie zu treiben, für die in mehreren großen Buden mit Vertretern wilder Völkerschaften gesorgt war. Vor der ersten schrie ein Ausrufer mit dem Aufwand des letzten Restes einer heiseren Stimme: „Treten Sie näher, meine Herrschaften, Sie sehen hier das Großartigste, was je in Europa gezeigt worden ist: einen Stamm von echten Menschen­fressern aus dem äußersten Innern von Afrika. Man darf ihnen nur mit Vorsicht zu nahe kommen, nur notgedrungen nähren sie sich hier von lebendigen Kaninchen. Niemand wird es bereuen, für diesen seltenen Genuß ein so geringes Opfer ge­bracht zu haben: erster Platz nur 50, zweiter Platz 25 Pfennige. Nur was das Auge sieht, das glaubt das Herz. Säumen Sie nicht, meine Herrschaften, der König der Schwarzen gibt sogleich das Zeichen, und der Anfang der Vorstellung beginnt!“ Ich ging sorgfältig prüfend zur nächsten Bude. Hier herrschte ein weniger lauter Ton der Anpreisung. Wenn die Wilden drinnen ihr Gebrüll und Waffengeklirr erhoben, erläuterte das draußen der Erklärer, ruhig hin und her schreitend, in der überlegenen Sprechweise eines wissenschaftlichen Vortrags: „So feiern diese harmlosen Naturvölker ihre Feste. Es ist eine Art Schnittertanz, den sie aufführen, wenn sie von einer reichen Kokosnußernte zurückkehren...“ Seine Sachlichkeit zog viele Besucher an, und auch ich ließ mich beinahe bestimmen, ihnen in die Bude zu folgen, hätte ich nur den Gedanken los werden können, daß ich diesen Wilden vielleicht schon wenige

Empfohlene Zitierweise:
Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 38. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/46&oldid=- (Version vom 27.5.2024)