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Seite:Otto Richter Lehrjahre eines Kopfarbeiters.pdf/47

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Tage später, nach Ablegung ihrer schwarzen Hautfarbe, in der Nähe meiner Wohnung, in der Friedrichstadt begegnen würde. – Meine ersten Groschen trug ich in das nebenan aufgeschlagene große Weltpanorama, wo man die bedeutendsten Ereignisse der letzten Jahrzehnte, wie den Taiping-Aufstand in China, die Erstürmung der Düppler Schanzen, die Er­mordung des Präsidenten Lincoln und vieles andere zu sehen bekam. Ich begrüßte dies als wertvolle Ergänzung unseres Geschichtsunterrichts, der in seiner gewohnten Gründlichkeit bei den Taten Bonapartes und des Marschall Vorwärts außer Atem kam und mit dem Wiener Kongreß seinen Geist aufgab. An geschichtlichen Kenntnissen bereichert hatte ich diese Stätte verlassen, da fiel mir ein Schild in die Augen: Floh-Zirkus. Ich fühlte mich versucht, dem offenbar dahintersteckenden Schwindel nachzuspüren, aber wie ward ich von dem Befund überrascht: alles war echt, eine reizende Künstlerschar entstieg einem wattegepolsterten Schächtelchen! An goldne Kettchen gefesselt, ließ der Direktor sie Schwertkämpfe ausfechten und, an niedliche Wägelchen gespannt, Rundreisen um den Tisch ausführen, worauf er ihnen zur Belohnung auf seinem Arme eine Blutsuppe verabreichte. Die erstaunliche Abrichtung dieser liebenswürdigen Künstler bot ein Beispiel höchster Ausdauer und Geduld und war mir als pädagogische Leistung um so lehrreicher, als ich selbst schon angefangen hatte, kleine leichtfüßige Springer aus der Sexta zu unterrichten. – Von hier wanderte ich weiter durch das von Menschen­massen, Staubwolken und Geräuschen erfüllte Gewirr der Zelt- und Budengassen mit ihren zahllosen Schaustellungen von wilden Tieren, Riesen, Zwergen und Mißgeburten, mit Marionetten- und Kaspertheatern, Singspielhallen, Zauber­sälen, Lachkabinetten und Irrgärten, mit Tanzsälen, Reit- und Rutschbahnen, Hexenschaukeln, Schieß- und Würfel­buden und dazwischen hineingestreut einem Schwarm von Krakelständen, auf denen Würstchen und Pöklinge, Kuchen,

Empfohlene Zitierweise:
Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 39. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/47&oldid=- (Version vom 27.5.2024)