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Seite:Otto Richter Lehrjahre eines Kopfarbeiters.pdf/45

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mein Inneres ausübte. Aus den vom Winde gekräuselten Wellen tauchten da die heimatlichen Wassergeister vor meinem seelischen Auge auf, und wo die glitzernden Fischlein im Sonnen­schein ihre vergnügten Luftsprünge machten, erlebte ich an mir das Dichterwort des seligen Brockes: „Ein zufriedenes Gemüt freut sich, wenn es Fische sieht.“ Die grün und weiß bemalten Dampfer, besetzt mit buntgekleideten fröhlichen Ausflüglern, glitten an uns vorüber wie Bilder einer freundlichen Zukunft. In Loschwitz stiegen wir hinauf zu dem anmutig gelegenen Burgberge, einer stillen ländlichen Gaststätte, die damals noch nicht auf die Dächer von Mietskasernen und ein breit­spurig hingelagertes Brückenscheusal herabschaute. Hier unter­hielten wir uns bei einem Glase einfachen Bieres von der Freundschaft Körners mit Schiller und bekräftigten dabei unsern eignen Seelenbund.

Meine Wanderlust betätigte sich unwiderstehlich in den Schulferien. Ich habe manchmal den fünfstündigen Weg von Meißen nach Dresden auf dem linken Elbufer singend und pfeifend zu Fuß zurückgelegt und bin sogar einmal, um meine Kraft zu erproben, an demselben Tage in der Sommerhitze auf der rechtufrigen Landstraße wieder zurückmarschiert. Da hielt mich freilich zuletzt, wie einst den Siegesboten von Marathon, nur noch der Ehrgeiz aufrecht, das Vorhaben zu vollenden. Aber ich konnte, zu Hause angekommen, nicht ausrufen: „Mitbürger, freut euch, wir haben gesiegt!“ Ich sagte nur: „Mutter, ich gehe gleich zu Bett!“

In den Sommerferien pflegte sich das große Dresdner Volksfest, die „Vogelwiese“, abzuspielen, die allen Schilde­rungen nach die Hochgenüsse des heimischen Jahrmarkts und Schützenfestes weit hinter sich lassen sollte. Es schien sich zu lohnen, dazu einmal den Marsch von Meißen herauf zu unter­nehmen. Selbstverständlich hatte ich es als strebsamer Sekun­daner nur auf das abgesehen, was dort in Kunst und Wissen­schaft geleistet wurde. Als ich erwartungsvoll dem Festplatze

Empfohlene Zitierweise:
Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 37. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/45&oldid=- (Version vom 27.5.2024)