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Seite:Otto Richter Lehrjahre eines Kopfarbeiters.pdf/80

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uns das Lob des Höchsten. Wenn der Obmann – er hieß von der Zeit her, wo er das Amt des Schriftführers ver­waltete, noch in alter Zopfigkeit „Sekretär“ – in den Lärm der Unterhaltung hinein Ruhe gebot und das zu singende Lied ankündigte, wenn die Jünger der Tafelrunde ihr rotes Notenbuch ergriffen; wenn dann der Doktor die Hand erhob und alsbald aus hundert jugendfrischen Kehlen die Töne kräftig brausend oder leise webend durch die Stille des Saales klangen, da wurden in den Seelen der Sänger alle Regungen der Freude und Wehmut, der Sehnsucht und Begeisterung wach, und ein einziges Gefühl beglückender Zusammengehörigkeit umschlang den ganzen großen Freundeskreis. In solche selige Stunden hinein ließ der Doktor, dieser prächtige Paulinervater mit dem reinen Kinderherzen, bisweilen das Plauderbächlein seiner gemüt- und humorvollen Beredsamkeit plätschern, oder ein von fernher gekommenes „altes Haus“ stand auf, um unter dem Donner eines heranrollenden Fäßchens den Schwur ewiger Treue zum Paulus zu erneuern, oder unser außerordentliches Mitglied Viktor Neßler, der musikalische Nachschöpfer des Trompeters von Säckingen, setzte sich ans Klavier und trug die traurige Geschichte vom giftigen grünen Tarlatan vor, die zum Totlachen war. Nicht selten kletterte ein kleiner Fuchs auf den Stuhl oder gar, um seiner Länge eine Elle zuzusetzen, auf den Tisch und erdreistete sich, in ge­reimter oder ungereimter Rede seine Bändiger mit der Schale seines Spottes zu übergießen. In dieser Rolle des Kneipzeitungsmannes habe ich mich fleißig und nach Kräften betätigt. Schon am Schlusse des zweiten Semesters wurde ich als „Protokollant“ zum zweiten Vorstandsmitgliede gewählt. In dieser Eigenschaft des Schriftwarts habe ich mancherlei Be­richte und Gesuche an Ministerium, Senat und andere amtliche Stellen abgefaßt, was mir ja schon von meinen Schreiber­jahren her geläufig war, aber sogar auch einmal ein Glück­wunschtelegramm in Versen an unser Ehrenmitglied Joseph

Empfohlene Zitierweise:
Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 68. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/80&oldid=- (Version vom 3.6.2024)