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Seite:Otto Richter Lehrjahre eines Kopfarbeiters.pdf/109

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Wuttke ihm gegenüber geklagt, daß die Studenten seines Seminars im Griechischen recht unsicher wären, am besten hätte Richter es beherrscht! Ich war starr. Der aktenfeindliche Forscher erbrachte nun selbst den Beweis, wieviel Verlaß auf persönliche Erinnerung als Geschichtsquelle ist.

Als sein Famulus die Universität verließ, betraute Wuttke mich mit diesem Amte und zugleich mit der Aufgabe, seinem sechzehnjährigen Sohne Robert Unterricht im Lateinischen und Griechischen zu erteilen. Robert war ein begabter und geistig regsamer, aber körperlich schwächlicher Jüngling. Der Vater ließ ihn im Hause unterrichten, um ihn nicht den Anstrengungen des Schulbesuchs, aber auch nicht der Ansteckung mit dem auf den Gymnasien herrschenden kaiser- und preußenfreundlichen Geiste auszusetzen. Die Nerven des jungen Mannes ermüdeten leicht, ich mußte daher in die Metamor­phosen Ovids oft Pausen einschieben; statt die Liebesgeschichte von Philemon und Baucis zu zergliedern, unterhielt ich ihn dann von den Vorgängen in meinem eigenen Herzen, das damals schwärmerisch für die schöne junge Schauspielerin Josephine Wessely erglühte. Die war der hellste Stern an meinem Theaterhimmel und überstrahlte in meinen Augen selbst Größen wie Franziska Ellmenreich und Friedrich Haase, die Peschka-Leutner und Eugen Gura. Beim jungen Wuttke fand ich für den Tausch der Liebhaberrollen erfreuliches Ver­ständnis, aber dem Alten berichtete ich davon lieber nichts: wer bürgte mir dafür, daß er meinen pädagogischen Kunst­griff gebührend gewürdigt hätte! Ich glaubte nicht, daß mein Schüler, der die griechisch-römischen Stärkungsmittel nur tropfenweise zu sich nahm, jemals die Kraft gewinnen würde, ein Amt auszufüllen, aber weit gefehlt. Er wurde vom Vater doch noch auf ein Gymnasium, zwar nicht in Deutschland, sondern in der Schweiz, geschickt, besuchte mit gutem Erfolge mehrere Universitäten und ward schließlich ein angesehener und sehr beliebter Professor der Nationalökonomie an der

Empfohlene Zitierweise:
Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 95. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/109&oldid=- (Version vom 7.6.2024)