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Seite:Otto Richter Lehrjahre eines Kopfarbeiters.pdf/110

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Technischen Hochschule in Dresden, wo ich wieder in freund­schaftlichen Verkehr mit ihm trat.

Die Bildungsarbeit am Sohne brachte mich auch in Beziehungen zu seiner Mutter. Sie war eine stattliche Er­scheinung mit ausdrucksvollem Gesicht, das noch die Spuren einstiger Schönheit trug, ein rechtes Gegenbild zu ihrem unscheinbaren Gatten. Auch an Bildung und geistigen Fähig­keiten war sie ihm gewachsen, ist sie doch als Emma Biller die Verfasserin zahlreicher guter Jugenderzählungen und geschichtlicher Romane geworden. Man bemerkte in dem freundlichen Verkehr zwischen den beiden Ehegatten nichts von einem inneren Gegensatze. Aber viele Jahre nachher hat Frau Wuttke mir anvertraut, es sei ihr unter dem Drucke der politischen Ansichten ihres Mannes oft der Zweifel ge­kommen, ob diese nicht verfehlt seien, und sie habe sich wie von einem Alb befreit gefühlt, als sie nach seinem Tode offen in die Begeisterung für Kaiser und Reich einstimmen durfte. Denselben Gesinnungswandel hätte der unversöhnliche Preußen­hasser an seinem Sohne erleben können.

Es war mir vergönnt, viel in dem gastfreien Hause Wuttkes zu verkehren. Ich habe da manche willkommene Bekanntschaft gemacht, so mit dem Privatdozenten von der Ropp, dem Schweizer Kulturhistoriker Henne am Rhyn, dem Dresdner Statistiker Petermann, auch mit der Schwester der Hausfrau, der geistvollen Malerin Clara Biller, die, ebenso wie früher der Maler Wilhelm von Kügelgen, un­bewußt eine ausgezeichnete Schriftstellerin war, wie die nach ihrem Tode für die Familie gedruckten Briefe aus Frankreich und Spanien beweisen. Die Unterhaltung in diesem Kreise war immer fesselnd und anregend: sie hielt sich nicht lange bei persönlichen Kleinigkeiten und Tages­erlebnissen auf, sondern ging sehr bald auf allgemeine Fragen von Wissenschaft und Kunst, von Bildung und Gesittung über.

Empfohlene Zitierweise:
Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 96. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/110&oldid=- (Version vom 7.6.2024)