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Seite:Otto Richter Lehrjahre eines Kopfarbeiters.pdf/111

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Wuttke beschränkte sich in seinen Vorlesungen auf die geschichtlichen Hilfswissenschaften, für die Behandlung der Zeitgeschichte erschienen ihm bei seiner politischen Gesinnung die Umstände wohl nicht günstig. Da packte ihn aber doch einmal die Lust, sich auszusprechen, und er kündigte für das Sommersemester 1876 eine öffentliche Vorlesung über die Revolution 1848/49 an; sie sollte am 14. Juni nachmittags 4 Uhr beginnen. Der Gegenstand machte Aufsehen, und ich erwartete nach manchen Äußerungen in der Studentenschaft einen starken Besuch, teilte ihm dies auch mit. In der Tat war der Hörsaal zur festgesetzten Stunde überfüllt, so daß ich die versammelten Kommilitonen einladen mußte, in einen benachbarten größeren Raum umzuziehen. Aber wir warteten weit über das akademische Viertel hinaus – der Professor kam nicht. Erst 1/2 5 Uhr erhielt ich die Nachricht, daß er schwer erkrankt sei. Als ich in seine Wohnung eilte, fand ich ihn schon tot. Er war gegen 4 Uhr, wo er hätte aufbrechen müssen, in seinem Arbeitszimmer bewußtlos am Boden liegend gefunden worden und um 5 Uhr gestorben. Offenbar hatte ihn bei der Vorbereitung auf die Vorlesung die Ver­senkung in eine Zeit, in der er selbst leidenschaftliche politische Kämpfe ausgefochten hatte, daneben vielleicht auch die Aus­sicht, wieder wie in alten Tagen vor einer großen Zuhörer­schaft zu sprechen, so lebhaft erregt, daß ein Schlagfluß seinem Leben ein plötzliches Ende bereitete. Ich war in tiefster Seele erschüttert. Als Andenken an das traurige Ereignis blieb mir sein Vorlesungsanschlag vom Schwarzen Brett und der mit meiner einsamen Einzeichnung versehene Belegbogen, den ich hatte in Umlauf setzen wollen. Im Auftrage seines dankbaren Seminars erließ ich in den Tageszeitungen einen Nachruf und habe später auf Grund einer handschriftlichen Lebensbeschreibung, die ein älterer ehemaliger Schüler, Georg Müller, Frauenstein, verfaßt hatte, einen Aufsatz über ihn in die Allgemeine deutsche Biographie geschrieben. Heinrich

Empfohlene Zitierweise:
Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 97. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/111&oldid=- (Version vom 7.6.2024)