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Seite:Otto Richter Lehrjahre eines Kopfarbeiters.pdf/112

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Wuttke hat die vornehmste Frucht seiner fleißigen Gelehrten­arbeit nicht reifen sehen: die von ihm vorbereitete Welt­geschichte ist nicht erschienen.


Der Doktorhut grüßt.

Ich hatte einen anregenden, kenntnisreichen Lehrer und wohlmeinenden Berater verloren, aber der Fortgang meiner Studien erlitt durch seinen Tod keine ernste Störung. Seit dem letzten Herbst besaß ich für meine wissenschaftliche Betätigung einen festen Rahmen. Unter den Preisaufgaben, die von der Universität beim Rektorwechsel 1875 gestellt wurden, befand sich auch eine geschichtliche: es wurde eine Arbeit über die Organisation und Geschäftsordnung des Basler Konzils verlangt. Das kam mir gerade recht, ich hatte ja mit dem Erfolge bei der Preisbewerbung um das Konstitu­tionsstipendium Blut geleckt. Bei meiner Kenntnis der parlamentarischen Formen konnte ich annehmen, daß ich mich in den Gegenstand leicht einarbeiten würde, und zugleich hoffen, in der Abhandlung eine brauchbare Doktordissertation zu gewinnen. Ich machte mich sogleich ans Werk. Der Hauch mittelalterlichen Kirchentums wehte seitdem in meinem stillen Dachstübchen, mit dem Verfasser der lateinischen Konzils­chronik, dem gelehrten Bischof Johann von Segovia, stand ich bald auf vertrautem Fuße. Wenn ich eifrig bis in die Nacht hinein die mächtigen Folianten von Mansis Konzilien­sammlung gewälzt hatte, sah ich im Traume die Kirchenfürsten des Abendlandes, alle überragend den Präsidenten Kardinal Julius von Cesarini, in Scharlach und Purpur gehüllt, plaudernd und streitend auf der Domterrasse über dem rauschenden Rhein wandeln, bis Glockenklang und Orgelton sie zur Sitzung ins Gotteshaus rief. Es dauerte nicht lange, da wuchs unter meinen Händen ein durchsichtiges Knochengerüst

Empfohlene Zitierweise:
Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 98. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/112&oldid=- (Version vom 10.6.2024)