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Seite:Otto Richter Lehrjahre eines Kopfarbeiters.pdf/108

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das größte Gewicht auf die Memoirenliteratur und vertrat die Meinung, daß die amtlichen Schriftstücke in den Archiven als Geschichtsquellen minderwertig seien, weil sie vielfach bewußt die Wahrheit verschleierten. Es wollte ihm nicht einleuchten, daß gerade die Verfasser von Denkwürdigkeiten meist darauf bedacht sind, sich selbst herauszustreichen – wie das doch auch meine gegenwärtigen Erinnerungen zur Genüge beweisen. Sein Irrtum war schuld daran, daß die Arbeit über die Bartholomäusnacht, die später aus seinem Nachlasse herausgegeben wurde, eine abfällige Beurteilung erfuhr. – Im nächsten Semester ward ein Stoff aus der altgriechischen Geschichte vorgenommen. Dabei saßen wir an warmen Sommerabenden gemütlich unter der Laube im Garten, etwas un­behaglich wurde es mir nur dadurch, daß Wuttke verlangte, wir sollten alle Quellenstellen, auf die er zu sprechen kam, sogleich fließend übersetzen und erläutern. Bei der Eile, mit der ich mir das Griechische hatte aneignen müssen, war ich darin so sattelfest noch nicht. Über diese Schwäche gab ich mich keiner Täuschung hin, dank rechtzeitiger Beherzigung des sokratischen γνώθι σαυτόν, wenn ich es auch nicht, wie der genügsame Philosophenvater, schon für die höchste Weisheit hielt, sich der eigenen Unwissenheit bewußt zu sein. Eine nicht gerade sehr dringliche Abhaltung kam mir daher eines Abends gelegen, um einmal von der mir ein bißchen zu gelehrten Tafel­runde wegzubleiben. Wuttke hatte gefragt: Wo ist denn heute Herr Richter? und von einem witzigen Genossen die dreiste Antwort erhalten: Der hat die Masern! Als ich von dieser gewagten Entschuldigung erfuhr, mußte ich natürlich, wenn auch mit bösem Gewissen, die Rolle des Kranken wider Willen spielen und kam bis zuletzt nicht wieder, obwohl der gastfreundliche Lehrer das Semester anziehend mit einer zwanglosen Plauderei bei Süßigkeiten und Wein, weißem und rotem, nicht von den schlechtesten Sorten, abzuschließen pflegte. Wie mir später Professor Voigt erzählte, hatte

Empfohlene Zitierweise:
Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 94. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/108&oldid=- (Version vom 7.6.2024)