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Seite:Otto Richter Lehrjahre eines Kopfarbeiters.pdf/59

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eine Fülle von Gesichtern der Vergangenheit vor meinem inneren Auge auf, und in der Landtagsstube stand zum greifen lebendig das Bild vor mir, das mir von Kindheit her aus Flathes Dreißigjährigem Krieg in der Erinnerung lebte: wie an einem schönen Maitage des Jahres 1618 die kaiserlichen Statthalter samt ihrem Geheimschreiber nach altböhmischer Sitte zum Fenster hinausgeworfen wurden. Ich fand die Handlungsweise der tschechischen Herren ebenso verständlich wie der radebrechende Fremdenführer und wunderte mich nur, daß der Kehrichthaufen unten schon weggeräumt war. Die eigenartigen Eindrücke der alten Hussitenstadt auf meinen Gesichts- und Geschichtssinn waren nachhaltig.

Nach einer Nachtfahrt im vollbesetzten Wagen, einem mir bisher unbekannten Vergnügen, das mir tiefe Einblicke in die selbstlose Natur des Menschen gewährte, kamen wir glücklich in der vielgerühmten Kaiserstadt an. Da alle Gasthöfe überfüllt waren, mieteten wir uns bei einem hilfreichen Oberamtskontrolleur auf der Schützengasse im dritten Bezirk ein. Ja, der Herr Oberamtskontrolleur, das war ein netter Mann! Er räumte uns bereitwillig seine gute Stube ein und stand uns mit Frau und Tochter stets gehorsamst zur Ver­fügung. Wenn er morgens mit dem Wunsche, daß die gnädigen Herren wohl geruht haben möchten, den Kopf zur Tür hereinsteckte, gaben seine lustig blinzelnden Äuglein, die vollen Backen und dazwischen eine in warmem Rot erglühende Kupfernase, die er wie einen kleinen Dampfkessel aus der Westentasche mit Heizung versorgte, ein überaus freundliches Bild. Die Unter­haltung mit diesem schmiegsamen Mitteleuropäer erforderte meine ganze Selbstbeherrschung, denn sein wienerisches Hoch­deutsch wirkte auf meine ungeübten Mulusohren so unwider­stehlich, daß ich mich auf die Lippen beißen mußte, um nicht laut herauszuplatzen.

Mein Schwager Ernst, der zwanzig Jahre älter als ich, sehr lernbegierig und in allen Dingen gewissenhaft war, nahm es

Empfohlene Zitierweise:
Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 49. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/59&oldid=- (Version vom 29.5.2024)