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Seite:Otto Richter Lehrjahre eines Kopfarbeiters.pdf/60

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mit der Besichtigung der Ausstellung wirklich ernst. Jeden Tag wurde eine Abteilung der Industriehallen eingehend durchgenommen. Die Erklärungen, die ich meinem Reise­gönner für sein gutes Geld lieferte, mögen nicht immer auf der Höhe der Wissenschaft gestanden haben: so glaubte ich die Aufschrift Romania, die in goldenen Riesenbuchstaben über einer durch farbenreiche Volkstrachten auffallenden Abteilung prangte, auf die Romagna im Kirchenstaat (Romandiola!) statt auf Rumänien deuten zu müssen, ein Schnitzer, der mich dann im stillen noch jahrelang geärgert hat. Auf mich wirkte hauptsächlich das Gesamtbild der Baulichkeiten und der Auf­stellung, besonders der ungeheuren Rotunde, daneben fesselten mich nur einige Sonderabteilungen, namentlich die Halle der Zeitungspresse, wo ich nicht genug staunen konnte, wie aus der Druckmaschine die Zeitungen fertiggefaltet herauskamen. So leicht hatte ich mir die Herstellung der öffentlichen Meinung nicht gedacht. Bei aller Ermüdung, die mit der sechstägigen Besichtigung der Ausstellung verbunden war, schätzte man sich doch glücklich, ein so gewaltiges Kulturwerk gesehen zu haben. Für Erquickung durch Speise und Trank, freilich nicht immer von der besten Sorte, war in den zahlreichen Wirtschaften des Ausstellungsplatzes ausreichend gesorgt. Um einen Gulden bekam man etwa soviel wie bei uns für eine Mark. Wir fühlten uns mit unserem schönen Goldstücken über das öster­reichische Papiergeldelend hoch erhaben, waren doch bei uns nur die Silbergulden zugelassen. Als ich einen solchen in einer Tyroler Weinstube in Zahlung gab, lehnte die Kellnerin seine Annahme mit dem Bemerken ab, dieses Geld kenne sie nicht! Das kam mir sehr – österreichisch vor.

Die ausstellungsfreie Zeit nutzten wir gut aus, freilich nicht zum Besuche der Museen, denn das ging über unsere Kräfte. Nur in die Schatzkammer der Hofburg zur Kaiser­krone des alten deutschen Reiches trieb mich mein Sinn für die Geschichte. Weihevolle Augenblicke verbrachten wir im

Empfohlene Zitierweise:
Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 50. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/60&oldid=- (Version vom 29.5.2024)