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Seite:Otto Richter Lehrjahre eines Kopfarbeiters.pdf/104

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begann neben den geschichtlichen vorwiegend volkswirtschaftliche, sowie staats- und finanzwissenschaftliche Vorlesungen zu besuchen. Da habe ich manche Stunden zu den Füßen des berühmten Nationalökonomen Wilhelm Roscher gesessen. Die hüstelnde Sprechweise des kleinen Mannes im langschößigen grauen Rock wirkte keineswegs packend, aber seine Vorträge fesselten ungemein durch die Klarheit der Gedanken und die Fülle des Stoffes. Er ließ sich nicht viel auf Aus­einandersetzungen mit wissenschaftlichen Gegnern ein, seine Lehrsätze traten als unbedingt gültig auf, und so hatte man nach jeder Stunde das beruhigende Gefühl, wieder ein Stück unanfechtbaren Wissens mit nach Hause zu nehmen. Er verstand als Beweisstücke für seine Lehren aus dem Leben und dem Schrifttum der Jahrtausende so viele köstliche Beispiele zusammenzubringen und mit der ernstesten Miene von der Welt vorzutragen, daß die Vorlesung mitunter beinahe zur Unterhaltung wurde. Roscher las im größten Hörsaale der Universität, im ersten Stock des Bornerianums. Seine zahl­reiche Gemeinde setzte sich aus Angehörigen aller Fakultäten zusammen, unter ihnen viele Ausländer und auch bejahrte Männer. Es war gewiß anerkennenswert, wenn in einer so zusammengewürfelten Gesellschaft immer gute Ordnung herrschte. Eines Tages war einem meiner Bekannten ein fremder großer Hund bis in den Saal nachgelaufen. Er wurde hinausgejagt, huschte aber mit Nachkommenden wieder herein und legte sich zwischen dem Rednerpult und der ersten Bank, auf der ich saß, ruhig nieder. Wie es schien, wollte er an Stelle seines Herrn, der wohl mit seinem Studium auf den Hund gekommen war, praktische Nationalökonomie hören. Als der gefeierte Lehrer das Pult betrat und den sonderbaren Studenten vor sich erblickte, ward er bleich vor Entrüstung und forderte die Entfernung des Tieres. Aber niemand rührte sich, keiner wollte den Schein auf sich laden, als ob der Hund ihm gehöre. Es folgte ein peinliches Schweigen und eine erregte zweite

Empfohlene Zitierweise:
Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 90. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/104&oldid=- (Version vom 7.6.2024)