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Seite:Otto Richter Lehrjahre eines Kopfarbeiters.pdf/105

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Aufforderung des Professors. Da schwang sich ein neben mir sitzender Russe, den ich immer stark im Verdacht des Anarchis­mus hatte, über die Schulbank heraus, ergriff den ungebetenen Gast beim Halsband, schleifte ihn zur Tür und schleuderte ihn weit hinaus. Der russische Anarchist hatte die deutsche akademische Ordnung gerettet.

Neben Roschers Kollegien hörte ich deutsche Staats­- und Rechtsgeschichte, sowie Staatsrecht bei Emil Friedberg, und neueres deutsches Staatsrecht bei Karl Biedermann und setzte die philosophischen Studien bei Max Heinze fort. Das Höchste, was sich mir an wissenschaftlichem Genuß darbot, waren die Vorträge Wilhelm Wundts über Kosmologie oder Theorie und Naturgeschichte des Weltalls. Sie gaben Gedankenarbeit von einer Tiefe und in einer so edlen Form, daß man sich zu freudiger Bewunderung hingerissen fühlte. Auch von den Geisteserzeugnissen anderer Gebiete habe ich gelegentlich stundenweise genippt, wenn ich erfuhr, daß ein besonders leckerer Trank angekündigt war, so wenn der Jurist Binding einen Fall von Mord aus Irrtum auseinandersetzte oder der Zoologe Leuckart die von ihm entdeckten Trichinen vorführte oder gar wenn der Astrophysiker Zöllner mit staunens­wertem Scharfsinn das Bestehen einer vierten Dimension nachwies. Als mich später mein Amt mit der bildenden Kunst in Berührung brachte, hat mich die versäumte Gelegenheit gereut, beim Professor Overbeck kunstgeschichtliche Vor­lesungen und Übungen zu besuchen. Daß er mich als Schrift­führer der Pauliner während seines Rektorats einmal zu einer Abendgesellschaft einlud, war doch nicht ausreichend gewesen, mich in sein Wissensgebiet gründlich einzuführen; ich hatte bloß gemerkt, daß er die Kunst verstand, Studenten fein und liebenswürdig zu bewirten.

In meinem Hauptfache hatte sich eine Änderung voll­zogen. Professor Voigt konnte, durch Schwerhörigkeit be­hindert, in seiner Gesellschaft nicht Rede und Gegenrede

Empfohlene Zitierweise:
Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 91. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/105&oldid=- (Version vom 7.6.2024)