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Seite:Otto Richter Lehrjahre eines Kopfarbeiters.pdf/42

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hinein in das Bußtagsgeläute die Sturmglocken: es brannte einer der beiden mächtigen Pontonschuppen, die der Terrasse gegenüber wie vom Strome abgesetzte Riesenkähne auf die Wiese hingestreckt lagen. Das mit militärischen Vorräten angefüllte Gebäude erschien in eine Feuersglut gehüllt, gegen die der Brand in meiner Geburtsstunde ein Nachtlicht war.

Auf dem Wege zum Speisehause kam ich in der Schloßstraße an der Meißner Porzellanniederlage vorbei und konnte bisweilen nicht umhin, ein paar Minuten stehenzubleiben. Wie mich das anheimelte! War doch im Schaufenster sogar der ehrwürdige kleine Goethe mit ausgestellt, den ich in der Kunstsammlung meines Vaters selbst in rissigem Zustande liebgewonnen hatte. Wenn Zeit genug war, ging ich gern durch die von himmelhohen Häusern mit schmuckreichen Erkern eingefaßte Straße weiter bis zum Altmarkte, der mir mit seinen geschlossenen Wänden und den vielen Fenstern und Firmenschildern wie ein gewaltiger Saal mit Gemälden er­schien. Auf diesem weiten Platze lagen die Erinnerungen an Dresdens Vergangenheit von der Stadtgründung an bis auf die Errichtung des neuen Deutschen Reiches in unübersehbarer Fülle ausgebreitet. Was darüber in einer Chronik zu lesen war, die ich auf dem Jahrmarkte bei dem gelehrten alten Büchertrödler Flachs erstanden hatte, ward mir hier anschaulich und lebendig. Da vollzog sich einst ein reger Verkehr fremd­ländischer Kaufmannswagen und einheimischer Bauernkarren, da wurden Gerichtssitzungen und Hinrichtungen, Bürger­versammlungen und landesherrliche Huldigungen, kirchliche Umzüge und biblische Volksschauspiele abgehalten, da gab es Turniere und Ringrennen, Tierhetzen, Bärenjagden und Fuchsprellen, fürstliche Auffahrten und Hochzeitsfeste mit Wein- und Geldausspenden, aber dann auch kriegerische Beschießung und furchtbare Feuersbrunst, feindliche Heer­lager und bürgerlicher Aufstand, zuletzt wieder herrliche Bekundungen vaterländischer Begeisterung und noch vieles,

Empfohlene Zitierweise:
Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 34. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/42&oldid=- (Version vom 27.5.2024)