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Seite:Otto Richter Lehrjahre eines Kopfarbeiters.pdf/85

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einer wellenförmigen Kneiptafel den Doktor sehen konnte, wie er mit einem Hebebaum den Takt zur „Jugendzeit“ schlug; nach der Rückkehr am Nachmittage geistliches Konzert in der Stadtkirche, abends Kommers, am dritten Morgen feierliche Entlassung der ins Philisterland abziehenden Brüder mit einer jener Reden des Doktors, durch die er alle in tiefster Seele zu packen verstand, und zum Schluß nachmittags eine lustige Rundfahrt auf zusammengetrommelten Fahrzeugen aller Art, von der feinen Kutsche bis herab zum Kinderwagen und Hundekarren. Das Schauspiel, das mit dieser letzten Ver­anstaltung der Einwohnerschaft der fürstlichen Haupt- und Residenzstadt geboten wurde, glich nicht in allen Einzelheiten dem Triumphzuge eines römischen Imperators, fand aber den Beifall des Brot und Spiele verlangenden Volkes in hohem Maße und half unseren Ruhm in die weitesten Kreise tragen. Bei der Abreise nahmen wir als Geschenk des hochherzigen Bürgers, bei dem ich zu Gaste gewesen, einen stattlichen schwar­zen Bernhardiner, namens Cäsar, mit, der dann lange Jahre der treue Begleiter der Pauliner und aufmerksame Verzehrer ihrer Knochen geblieben ist. In großer Zahl geleiteten uns die freundlichen Gastgeber unter den Klängen flotter Marschweisen auf den Bahnhof, in Eile küßte der Doktor noch einmal alle anwesenden Frauen und Mädchen ohne Ansehen von Alter, Schönheit und Tugend, die Lokomotive pfiff und die Nacht­schwärmer rückten im Wagenabteil zusammen, um einen langen Schlaf zu tun.

Eine solche Konzertfahrt bot reichliche Gelegenheit, studentischen Übermut in harmloser Weise auszutoben, und brachte Gastgebern wie Gästen eine Fülle von Vergnügen und Genuß. Ich habe in den nächsten Jahren noch die nicht minder fröhlichen Spritzen nach Plauen und zu meiner be­sonderen Freude auch nach Meißen mitgemacht, wo ich mit Stolz die blau-weiße Flagge aus der Wohnung meiner Mutter am Dampfschifflandeplatze flattern ließ. Mein bisweilen

Empfohlene Zitierweise:
Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 73. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/85&oldid=- (Version vom 4.6.2024)