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Seite:Otto Richter Lehrjahre eines Kopfarbeiters.pdf/122

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Hundert Mark sich entschlossen hatte, statt des Hilfsarbeiters einen geübten Archivar anzustellen. Der Mißerfolg schlug zu meinem Glücke aus. Nach Zeitungsnachrichten aus Dresden hatte dort in demselben Monat Mai 1877 der älteste Biblio­thekar an der königlichen öffentlichen Bibliothek das Zeitliche gesegnet. Ich vermutete, daß nun nach dem Aufrücken der übrigen Beamten die unterste Stelle zu besetzen sein würde, und schrieb an den Oberbibliothekar Ernst Förstemann, den bekannten Sprachforscher. Nach Erledigung einiger Vor­fragen, erhielt ich sehr bald die Einladung, ihn zwanglos zu besuchen. Das stattliche Äußere dieses Mannes und seine freie, weitherzige Art sich auszusprechen, nahm mich sofort für ihn ein. Er erklärte mir, daß er vom Bibliotheksbeamten vor allem wissenschaftlichen Sinn fordere, und meinte, dieser lasse sich am besten durch eigene Forschungsarbeit erwerben und erhalten. Seine ganze Abneigung galt „gescheiterten Existenzen“, wie sie sich bisweilen mit Empfehlungen hoch­gestellter Personen, zahlreich zu diesem Berufe drängten; nicht minder war es ihm zuwider, wenn Angestellte das Amt nur als melkende Kuh betrachteten, neben deren notdürftiger Wartung sie ihre Liebhabereien treiben wollten. Wer mit dem Absitzen der Dienstzeit genug für das Gemeinwohl getan zu haben glaubte, durfte nicht auf seine Zufriedenheit rechnen. Von diesem Standpunkte aus hatte er an einigen seiner Be­amten viel auszusetzen und sprach sich darüber mit voller Offen­heit aus. Zu den Kräften, vor denen seine Kritik achtungsvoll Halt machte, gehörte vor allen Franz Schnorr von Carolsfeld, dem Herausgeber des Archivs für Literaturgeschichte. An diesen ausgezeichneten Gelehrten habe ich mich denn auch eng angeschlossen, er ist mir ein gesinnungstüchtiger Führer und charaktervoller Freund geworden. Daß mir Förstemann vertrauensvoll gleich beim ersten Besuche alle Schwächen seiner damals allerdings nicht ganz glücklich zusammengesetzten Beamtenschaft verriet, kam wohl von seiner Einschätzung

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Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 108. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/122&oldid=- (Version vom 12.6.2024)