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Seite:Otto Richter Lehrjahre eines Kopfarbeiters.pdf/55

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die an mich gewendete Mühe reichlich belohnt und schüttete sein treues Lehrerherz in dem Wunsche aus: Alle guten Geister mögen mit Ihnen sein! –

Die Abschiedsrede, die ich zu halten hatte, bewegte sich zwar in hohen Tönen, aber ohne die Wehmut und den Jubel über das Scheiden vom Schulleben, denn für mich bedeutete sie noch nicht dessen Ende. Schon seit Jahresfrist hatte mir mein Bruder die Vorbereitung auf das ersehnte Universitätsstudium gestattet und ermöglicht. Ich nahm während meines Oberprimanerjahres bei einem unserer jüngeren Lehrer, dem feinsinnigen Kandidaten Büsching, Privatunterricht im Grie­chischen. Dabei lernte ich nun auch den bewußten Xenophon kennen und ließ mir von ihm selbst den Verlauf des Zuges der Zehn­tausend erzählen. Es war wohl nicht ganz leicht, neben der Schule gleichzeitig noch Privatstunden zu nehmen und zu geben. „Doch Ordnung lehrt euch Zeit gewinnen“ sagt Mephistopheles zum Schüler, und da es mir überdies nicht an der Lust fehlte, ward es mir auch nicht zur Last. Während des Sommers 1873 feilschte ich mit Virgil, Horaz und Tacitus, mit Homer, Thukydides, Demosthenes und Plato unver­drossen herum; die alten ehrwürdigen Gedankenschmiede aus Griechenland machten manchmal höllisch ernste Gesichter, wenn ich ihnen ihren großen Vorrat von unregelmäßigen Verben und anderen Kopfschrauben nicht glatt abkaufen wollte. Ich hatte die Meinigen in dem Glauben gelassen, daß ich die Gymnasialprüfung erst nächste Ostern ablegen würde, meldete mich aber insgeheim schon zur Michaelis­prüfung bei der Kreuzschule. Es war ein etwas gewagtes Spiel, innerhalb eines halben Jahres zwei Reifeprüfungen abzulegen, aber das Glück blieb mir hold. Trotz der Kürze der Vorbereitung und der Unbekanntschaft mit den An­forderungen der prüfenden Lehrer kam ich leidlich durch und trug am 19. September mein Zeugnis mit einer freundlichen 2 vergnügt vorbei an Körners Heldengestalt, die auch so eine

Empfohlene Zitierweise:
Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 47. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/55&oldid=- (Version vom 28.5.2024)