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Seite:Otto Richter Lehrjahre eines Kopfarbeiters.pdf/73

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zu St. Pauli das Ziel meiner Sehnsucht gewesen. An einem schönen Augusttage des Jahres 1871, als ich die Schulferien in Meißen verlebte, kam ich gegen Abend mit meinem Bruder August in die Wirtschaft zur Elbterrasse und sah in dem anmutig gelegenen Garten eine lange Kneiptafel aufgeschlagen, an der etwa dreißig Studenten mit hell­blauen Mützen ein lustiges Treiben entfalteten. Nach der Zahl der aufgereihten Flaschen zu urteilen, hatten sie dem schweren Meißner Wein schon fleißig zugesprochen. Da erhob sich ein älterer lebhafter Herr mit rötlich strahlendem Gesicht und dunklem Lockenhaar, klopfte und erzielte sogleich lautlose Stille. Nach der leichten Bewegung seiner Hand erklangen nun, erst leise, dann anschwellend und wieder verhallend, die Töne des herrlichen Adamschen Quintetts „Abend wird es wieder“ und erfüllten den Garten wie mit einem wonnigen Blütenduft, der sich hinaufschwang in die Wipfel der Bäume und über den Strom hinüber zu den Rebengeländen der Spaarberge. Es ward mir bei dem zarten, uns unverhofft entgegenströmenden Gesange unsagbar feierlich zumute, und als sie dann ihr Bannerlied, Perfalls „Noch ist die blühende goldene Zeit“, erklingen ließen, fühlte ich mich ganz in die jubelnde Stimmung der Sänger hineingerissen. Die diese zauberische Wirkung hervorbrachten, waren Pauliner, mit ihrem Direktor Dr. Hermann Langer, auf einer Vergnügungs­reise von Leipzig nach Dresden begriffen. Der Abend blieb mir unvergeßlich. Seitdem stand es bei mir fest, daß ich, wenn je mir das Glück des Universitätsbesuchs beschieden sein sollte, mich den Paulinern anschließen würde. Das erste Lied, das ich von ihnen gehört hatte, ist immer mein Lieblingslied geblieben.

Der Gesanglehrer der Realschule, der bärbeißige Kantor Müller, genannt Orpheus-Müller, wollte mir wohl, weil ich bei seinem Unterricht Ernst und Eifer zeigte; er freute sich über mein Vorhaben und nahm mich in den letzten Monaten meines

Empfohlene Zitierweise:
Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 63. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/73&oldid=- (Version vom 30.5.2024)