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Seite:Otto Richter Lehrjahre eines Kopfarbeiters.pdf/74

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Aufenthaltes in Dresden unentgeltlich noch in gesangliche Bearbeitung. So vorbereitet, meldete ich mich sogleich nach meiner Ankunft in Leipzig beim Paulus zur Aufnahme­prüfung. Der Verein hatte seinen Übungsraum im Kreuzgange des Paulinums. In diesem düstern Gewölbe, das sich recht gut auch für Vemgerichtssitzungen geeignet hätte, thronte Langer feierlich vor dem Flügel, umgeben von dem ernst dreinschauenden Prüfungsausschusse. Zuerst wurden jedem einzeln Treffproben auferlegt, dann mußten vier Mann zusammentreten und ein ihnen aufgegebenes Quartett vom Blatte singen. Da mochten wohl einige von den Prüflingen gewalt­same Änderungen an dem Tonsatze vornehmen, ich wenigstens neigte von jeher zu solchen Eigenmächtigkeiten. Der hohe Gerichtshof erklärte das für strafbar und mich für verurteilt zum – Durchfall. Langer hatte wahrscheinlich auch vom großen Dresdner Sängerfeste her noch den Vers im Ge­dächtnis, den der Arzt und Dichter Dr. Keiler als Festspruch vorgeschlagen hatte: „Die Nachtigall singt auf dem Baum, der Mensch kann’s auf der Erde kaum“ und glaubte ihn be­sonders auf mich anwenden zu müssen. Es war eine herbe Enttäuschung. Aber ich ließ mich nicht entmutigen und nahm, um meine hartnäckige Gehörlosigkeit zu überwinden, nochmals Gesangsunterricht bei einem studierenden Seminaristen, einem Meißner Landsmanne. Zu Beginn des zweiten Semesters bewarb ich mich aufs neue, diesmal wohlweislich nicht für den ersten, sondern für den weniger überfüllten zweiten Baß, bei dem ich eine nachsichtigere Würdigung meiner natürlichen Gaben erwarten durfte. Und es gelang. Dreißig Freudegefährten sammelten sich am 3. Mai 1874 im Kreuzgange um den Fuchs­major und hielten, über ein in der schmalen Spitzbogentür liegendes Fäßchen mit aufgesteckten brennenden Kerzen springend, fröhlichen Einzug in den Verein, vom Chor der Burschen mit dem Fuchsliede „Was kommt dort von der Höh?“ begrüßt. Die Sitte des Fäßchensprunges stammte wohl aus alter Zeit;

Empfohlene Zitierweise:
Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 64. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/74&oldid=- (Version vom 30.5.2024)