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Seite:Otto Richter Lehrjahre eines Kopfarbeiters.pdf/120

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mit meiner Dissertation bereits geliefert. Sobald mir dieses Schriftchen gedruckt vor Augen lag, war mir der hohe Reiz der Verfasserschaft lebhaft zum Bewußtsein gekommen. Es ist ein eignes Ding um neugedruckte Geisteserzeugnisse: man hat das Gefühl, als ob die Tausende von Zeilen sich zu einer Drahtleitung aneinander reihten, auf der ein Strom zu fernen Lesern hinausgeht und, wenn er stark genug ist, an den Glüh­fäden ihrer Seele ein Flämmchen entzündet. Dem Urheber bleibt dann die stolze Empfindung, Ausgangs- und Mittel­punkt einer selbstgeschaffenen kleinen Gedankenwelt zu sein. – So hatten sich denn allmählich meine Absichten ganz auf den Beruf des Archivars oder Bibliothekars gerichtet, mit dem sich wissenschaftliche Forschungsarbeit leicht vereinigen ließ. In diesem Fache unterzukommen war aber bei der geringen Zahl der Stellen, trotz der damit verbundenen niedrigen Besoldung, ungemein schwierig. Der neubackne Herr Doktor mußte sich daher zunächst geduldig auf die Lauer legen, und diese Notwendigkeit war es eben, die ihn zu der Bekanntschaft mit dem Leihhause verhalf.

Unterdessen konnte es mir nichts schaden, wenn ich auf der Universität blieb und noch etwas hinzulernte. An Wuttkes Stelle war zu Ostern 1877 Professor Karl von Noorden getreten, ein überaus fesselnder Lehrer, eine Kraft ersten Ranges. Er sprach in seinen Kollegien über die europäische Geschichte des 17. und 18. Jahrhunderts mit loderndem Feuer und einer Kunst der freien Rede, daß es ein Genuß war, ihm zuzuhören. Ich versäumte keinen seiner Vorträge, wenn ich auch seiner gewaltpolitischen Geschichtsauffassung nicht immer beistimmen konnte. Noorden hatte bei Annahme der Professur von der Staatsregierung die Einrichtung eines königlichen historischen Seminars erlangt, das mit schönen Arbeitsräumen und einer reichen Bibliothek ausgestattet wurde. Hier suchte er mit Eifer und Gründlichkeit seine zahlreichen Schüler, zu denen auch ich mich gesellte, in Methode und Kritik der Geschichtsforschung

Empfohlene Zitierweise:
Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 106. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/120&oldid=- (Version vom 12.6.2024)