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Seite:Otto Richter Lehrjahre eines Kopfarbeiters.pdf/82

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einen blassen Pfefferkuchenmann an die Wand, wo ich bei der mir gerade an diesem Abend sonderbar beschleunigt erscheinen­den Erdumdrehung die größte Mühe hatte, den Boden nicht unter den Füßen zu verlieren. Dann wandelten wir langsam und unter aufhältlichen Gesprächen über die höchsten Fragen des Daseins bis an meine Haustür. Die schmale Holztreppe in den vierten Stock hinauf sollte ich allein erklimmen, und ich muß tatsächlich, wenn auch vielleicht unter erheblichen Schwierig­keiten, oben angelangt sein, denn am anderen Morgen fand ich mich richtig im Bett. Es war ein Nachteil für mein Be­finden, daß ich den Hering schon am Abend im voraus verzehrt hatte. Für die Zukunft gelobte ich mir, die Mahnung unseres Schutzheiligen in seiner Epistel an die Epheser, Kapitel 5, Vers 18, zu beherzigen: „Saufet euch nicht voll Weines, daraus ein unordentliches Wesen folgt, sondern werdet voll Geistes.“

Einen vergnügten Abend brachte jedesmal die auch von den Professoren gern besuchte Weihnachtsbescherung. Es wurde eine von Vereinsbrüdern gedichtete und vertonte Operette oder Posse aufgeführt, und daran schloß sich die Verteilung kleiner Scherzgeschenke mit Verlesung witziger Widmungen. Ich habe dazu manches bösartige Verschen beigesteuert, aber keins ist mit einem solchen Heiterkeitssturm aufgenommen worden und mir so im Gedächtnis geblieben wie der schlagende Witz, den ich als Besucher der Bescherung in dem uns be­freundeten akademischen Gesangverein Arion erlebte: Einem alten Burschen, namens Krause, wurde eine lange Stange mit den Worten überreicht:

Ohne Balancierstange kommst Du doch nicht nach Hause,
hier hast Du eine – warte, Krause!

Nach der Weihnachtsoperette begannen die gesanglichen Vorbereitungen für das große Winterkonzert, das der Verein Anfang Februar öffentlich im Gewandhause aufzuführen pflegte und an das sich folgenden Tages ein festlicher Ball

Empfohlene Zitierweise:
Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 70. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/82&oldid=- (Version vom 3.6.2024)