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Seite:Otto Richter Lehrjahre eines Kopfarbeiters.pdf/98

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Für die ersten Semester hatte ich eine Stelle im königlichen Konvikt erlangt, wo mehrere hundert Studenten freies Mittag- und Abendessen genossen. Das war – und ist wohl noch – eine vortreffliche Anstalt mit eigenartigen Gebräuchen. In einem großen Erdgeschoßraume am Paulinerhofe standen in Reihen schwere quadratische Tische, umgeben von hölzernen Bänken. Jeder Tisch mit acht Mann hatte zur Handhabung der Ordnung einen selbstgewählten Senior, auf erhöhtem Sitze thronte der Konviktinspektor, ein älterer Kandidat der Theologie. Mit dem Glockenschlage trugen die Universitätsdiener die Schüsseln auf, ein kleines Brot, der sehr beliebte „Konviktschinken“, der von vielen mit nach Hause genommen wurde, lag vorher auf jedem Platze bereit. Mittags gab es gewöhnlich Fleisch mit Gemüse, Sonntags Braten mit ge­dünstetem Obst, abends Wurst oder Butter und Käse. Auf der großen Gemüseschüssel schwammen acht Schnitte Fleisch, für jeden Tischgenossen einer. Wenn versehentlich ein Stück fehlte oder sonst an der Speise ein Mangel festzustellen war, ließ der Tisch ein achtstimmiges „Herr Inspektor!“ erschallen, worauf dieser erschien, um die Beschwerde entgegenzunehmen. Das Essen war in der Regel reichlich und schmackhaft; wurde aber doch einmal eine nicht ganz tadellose Speise aufgetragen, so machte sich die Unzufriedenheit von allen Seiten in dem Rufe nach dem Inspektor Luft, der aber in solchen schweren Fällen nicht leicht Abhilfe schaffen konnte. Das Herausstechen der Fleischstücke aus der Schüssel ging an den meisten Tischen der Reihe nach rundum, dann teilte der Senior mit dem Schöpf­löffel das Gemüse aus. An manchen Tischen aber herrschte der „wilde Stich“, wobei diejenigen am besten abschnitten, die das sicherste Augenmaß hatten und sich nicht scheuten, mit ihrer Gabel die Hände der Nachbarn in Gefahr zu bringen. Abgesehen von solchen rücksichtslosen Brüdern, hielten die Tischgenossen gute Kameradschaft, und wenn einem etwas Erfreuliches, sei es der Geburtstag oder ein Stipendium oder

Empfohlene Zitierweise:
Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 84. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/98&oldid=- (Version vom 5.6.2024)