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Seite:Otto Richter Lehrjahre eines Kopfarbeiters.pdf/99

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eine bestandene Prüfung, zugestoßen war, stiftete er den Genossen einen „Wurstsatz“, das heißt eine Verdoppelung der abends häufig auf den Tisch kommenden warmen Würstchen, die dann unter festlichem Spruch auf den Spender verzehrt wurden. Natürlich war die Studentenschaft zu Scherzen jederzeit gut aufgelegt, besonders gegenüber zylindergeschmückten ehrbaren Landpastoren, die besuchsweise im Saale erschienen, um ihre Erinnerungen an diese nahrhafte Stätte aufzufrischen, und die man gern durch den Ruf „Mann! Mann!“ und die donnernde Aufforderung „Hut ab!“ und dann wieder „Hut auf!“ in Bedrängnis brachte. Eine ergötzliche Aufführung gab es, wenn zur Meßzeit eine Musikbande draußen ihre Gassenhauer vortrug und die ganze Tischgesellschaft mit vollen Backen in den Kehrreim einstimmte, so bei dem schönen Liede:

Jule kam zu mir und sagt’, sie wollt mich küssen,
und vor lauter Liebe hat sie mich gebissen. Jule! Jule!

Sonnabends zog regelmäßig nach dem Essen ein großer Teil der Konviktoristen, unter ihnen auch ich, um die herrlichen Motetten des Thomanerchors zu hören, in die Thomaskirche, durch deren ehrwürdige Hallen einst der große Bach seine Orgelstürme hatte brausen lassen. Das war allemal eine feine künstlerische Nachspeise.

Ich gab den Genuß des Konviks zugunsten Bedürftigerer auf, sobald ich ansehnliche Stipendien erlangt hatte. Von der Stadt Meißen war mir schon während meiner Schulzeit ein Stipendium zugeflossen, jetzt bewilligte mir das Domstift ein solches von jährlich 150 Mark auf drei Jahre, die Regierung aus der König-Johann-Stiftung eins von 450 Mark auf zwei Jahre. Mit diesen Beihilfen und den fortdauernden Zuschüssen meines Bruders saß ich nun behäbig in völlig geordneten Kassenverhältnissen, die es mir sogar ermöglichten, bisweilen einen Freund über die letzten Tage des Monats ohne Schaden für Ehre und Wohlbefinden hinwegzubringen. Ich nahm den Mittagstisch mit Behagen in der von Studenten vielbesuchten

Empfohlene Zitierweise:
Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 85. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/99&oldid=- (Version vom 5.6.2024)