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Seite:Otto Richter Lehrjahre eines Kopfarbeiters.pdf/116

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Übungsarbeit im Strome der Vergessenheit unterging. Freut sich doch jeder Verfasser, wenn sein Werk gute Aufnahme findet, denn naturgemäß liebt er es wie die Mutter ihr Kind: hier Fleisch vom eigenen Fleische, dort Geist vom eigenen Geiste. – Für die mündliche Prüfung waren drei Wissen­schaftsgebiete vorgeschrieben, ich wählte dafür Geschichte, Philosophie und Nationalökonomie. Am 1. März 1877 um 2 Uhr sollte ich mich im Roten Kolleg einfinden, jenem ehr­würdigen Hause an der Ritterstraße, wo vor Zeiten Doktoren, Magister und Scholaren gewohnt und gewirtschaftet und ein so berühmter Mann wie Leibniz das Licht der Welt erblickt hatte. Ein Examen ist wegen der Zufälligkeiten, die es mit sich bringt, stets eine zweifelhafte Sache. Als ich die Treppe hinaufstieg, war der Zylinder, den ich an Stelle der blauen Mütze trug, zwar nicht gerade eine Angströhre, aber doch auch nicht mit Glücksgefühlen angefüllt. Ich legte die Prüfung gemeinschaftlich mit einem Freunde ab. Am Vormittag hatte ich mit ihm einen Spaziergang um die Promenade gemacht und ihm dabei auf seinen Wunsch noch einmal die Grundzüge der deutschen Städteverfassung, in denen er sich nicht sicher fühlte, auseinandergesetzt. Gerade darin nahm ihn Professor Voigt vor und er bestand nun glänzend, während ich über die mir nicht so geläufigen römischen Verfassungsverhältnisse Auskunft geben mußte. Auf eine eigentlich recht leichte Frage, die dem Vergleich einer altrömischen Staatseinrichtung mit der entsprechenden neudeutschen galt, wollte mir nicht sofort die rechte Antwort einfallen. Der als Prokanzellarius den Vorsitz führende launige Professor Leuckart flüsterte sie mir zu, aber es widerstrebte mir natürlich, vor dem berühmten Zoologen den Papagei zu spielen, und ich blieb die Antwort lieber schuldig. Ganz so bedenklich war ich einst in der Gymnasialprüfung nicht gewesen: in der mir vom Rektor Hultzsch zum Übersetzen überreichten Aufgabe des Sallust war zu dem Worte praesidium, das da in der selteneren Anwendung als

Empfohlene Zitierweise:
Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 102. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/116&oldid=- (Version vom 10.6.2024)