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Seite:Otto Richter Lehrjahre eines Kopfarbeiters.pdf/92

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kam mir vor wie ein altes Mütterchen, das eingeengt und mißvergnügt auf seine großspurige Umgebung blickte. Aber in der inneren Stadt – welch eine Fülle stattlicher Häuser mit kunstreichen Schauseiten und welch reges geschäftliches Treiben in den Straßen, ein wahrhaft großstädtisches Leben! Und wie schön im Mittelpunkte der Markt mit seinen altertümlichen und geschichtlich bedeutsamen Gebäuden: den Platz beherrschend und achtunggebietend das wuchtige Rathaus mit seinen sechs hohen Giebeln, dann das stolze Königshaus, wo einst Gäste, wie Peter der Große und Karl XII. weilten, wo der friedsame Gellert vor dem kriegsgewaltigen Friedrich für die leidende Menschheit eintrat, wo der geschlagene Korse nach der furcht­baren Schicksalsschlacht von seinem irregeleiteten sächsischen Bundesgenossen auf immer Abschied nahm; endlich das berühmteste Haus der Stadt, Auerbachs Hof, in seinen zahl­losen Gewölben und Buden Jahrhunderte hindurch die Nieder­lage für die kostbarsten Waren Europas, für mich noch immer von Bedeutung, wenn ich eine neue blaue Mütze brauchte, nachdem die alte dem Brauche des Aufspießens beim „Landes­vater“ zum Opfer gefallen war.

In meinen häuslichen Verhältnissen hatten sich wichtige Veränderungen vollzogen. Die Wohnung auf der Blumen­gasse behagte mir nicht lange. Die ältliche Wirtstochter, der Stolz ihrer Eltern, war eine ganz Fromme; sie besuchte alle Zusammenkünfte und Predigten der Heiligen und trug dann stundenlang aus beneidenswertem Gedächtnis die gehörten Erbauungsreden ihren Eltern vor. Das durch die Tür wider­standslos mit anhören zu müssen, brachte mich allmählich zur Verzweiflung. Ich kündigte und bezog zusammen mit einem Vereinsbruder aus Schlesien ein Zimmer bei einem Schuhmacher in der Burgstraße. So sah ich mich aus der Vorstadt mitten hinein in das älteste Leipzig versetzt, auf der einen Seite den malerischen Thomaskirchhof, auf der anderen die Pleißenburg mit ihrem trotzigen Turme, dem Wahrzeichen der Stadt,

Empfohlene Zitierweise:
Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 80. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/92&oldid=- (Version vom 5.6.2024)