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Seite:Otto Richter Lehrjahre eines Kopfarbeiters.pdf/62

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waren mehrere Besuche im Esterhazykeller, einer dunkeln Spelunke, wo ein Glas guter süßer Ruster für 23 Kreuzer und zwei warme Würstchen mit Brot für 10 Kreuzer verabreicht wurden. Dort sorgte ein Gemisch von Leuten aller Stände immer für Unterhaltung. Als ich aber einmal an eine im Kreise herumstehende fröhliche Gruppe herantrat und der Spaß­macher in der Mitte sich als ein lustiger Fußbekleidungs­künstler aus – Lommatzsch entpuppte, wich ich erschrocken zurück, in der Befürchtung, der im unverfälschten Meißnisch sich ergehende benebelte Daleminzier könne mich als Landsmann erkennen und begrüßen. Trotz des Schleiers, den der ungeheure Fremdenbesuch über alle öffentlichen Orte legte, merkte man doch hie und da hindurch, daß es nur Eine Kaiserstadt und nur Ein Wien gab. Vaterländische Gefühle wurden in uns wach, als wir an dem geschichtlich so bedeutungsvollen 18. Oktober auf der Ringstraße unsern alten Kaiser Wilhelm zusammen mit dem Kaiser Franz Joseph im Vorbeifahren begrüßen konnten. Man war erfreut über die ersten Ansätze zu einem bundesbrüderlichen Verhältnis. Wer vermochte zu ahnen, daß es dereinst unserem Vaterlande zum Verhängnis werden würde!

Am nächsten Tage labten wir uns im Römischen Bade und lernten dort vorzügliche, bei uns unbekannte Einrichtungen von heißen und kalten Bädern und ein Treiben kennen, wie es wohl ähnlich in den Badeanstalten des alten Rom geherrscht haben mag. Hier schüttelten wir den Wiener Staub von unseren Füßen und rüsteten uns zu einem Abstecher nach Budapest. Eine siebenstündige, fast ununterbrochene Schnell­zugsfahrt führte uns durch weite Ebenen, die mit ihren spär­lichen Dörfern und den großen Viehherden ein fremdartig wirkendes Bild schwach bevölkerten Landes darboten. Abends in Pest angekommen, stiegen wir im Grand Hôtel Hungaria am Donaukai ab. Beim Nachtessen wurden wir stutzig: daß man uns zum Wein die Wasserflasche hinsetzte, fanden wir

Empfohlene Zitierweise:
Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 52. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/62&oldid=- (Version vom 4.6.2024)