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Seite:Otto Richter Lehrjahre eines Kopfarbeiters.pdf/68

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die nahegelegene alma mater zu bekunden. Der Scherz oder Wortstreit mit einigen trinkfesten Philistern und examenscheuen Studenten endete dort am Stammtische gewöhnlich in einem von Versneckereien begleiteten Zutrinken aus einem großen Glasstiefel. Kurze Zeit fand ich daran Vergnügen, bald aber blieb ich weg und fühlte mich unliebsam aus Morpheus Armen aufgeschreckt, wenn der Stubengenosse lange nach Mitternacht polternd nach Hause kam, um dann den Vor­mittag zu verschlafen. Ich mietete mir daher, um ungestört zu sein, ein eigenes Zimmer auf der Blumengasse in der Reudnitzer Vorstadt. Meinen Freund, der mir einst in Meißen ein nachahmenswertes Vorbild gewesen war, verlor ich von da an aus den Augen. Er hat sich von seiner ungeregelten Lebensweise schwer aufzuraffen vermocht, trotz seiner Be­gabung nur ein minderwertiges Befähigungszeugnis erlangt und soll als Lehrer an der deutschen Schule in Konstantinopel ein frühes Türkengrab gefunden haben.

Bei der starken Verlockung zum Wirtshausbesuche kam mir ein Anlaß zu anhaltender Abendbeschäftigung sehr zustatten. Der akademische Senat schrieb Ende Dezember 1873 mit viermonatiger Frist eine Preisbewerbung um das Kliensche Konstitutionsstipendium aus und verlangte eine Arbeit über „den Sozialismus J. G. Fichtes und dessen Unterschied von dem heute gewöhnlichen Sozialismus“. Aufgabe und Preis lockten mich und ich packte die Sache sogleich an. Das ein­gehende Studium der Werke Fichtes verschaffte mir ein fesselndes Bild von den eigenartigen politischen Anschauungen des großen Idealisten, den materialistischen Sozialismus der Neuzeit lernte ich aus Flugschriften und Versammlungsreden kennen. Sehr anregend waren in dieser Hinsicht die Vorträge des Landwirtschaftsprofessors Birnbaum über „Tagesfragen“. Damit verbanden sich Sprachabende im Saale der Zentral­halle, an denen Hunderte von Studenten aus allen Parteien in parlamentarischer Form ihre Meinungen über den vorgetragenen

Empfohlene Zitierweise:
Otto Richter: Lehrjahre eines Kopfarbeiters. Verlag der Buchdruckerei der Wilhelm und Bertha von Baensch Stiftung, Dresden 1925, Seite 58. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Otto_Richter_Lehrjahre_eines_Kopfarbeiters.pdf/68&oldid=- (Version vom 4.6.2024)